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Bei kaum einem anderen musikalischen Werk unterscheiden sich Aufführungen und folglich auch Einspielungen so sehr voneinander wie bei der Vespro della Beata Vergine, der Marienvesper, von Claudio Monteverdi (1567-1643). Die Gründe dafür liegen in dem Stück selbst, dessen Geschichte noch immer nicht zweifelsfrei erforscht ist. Handelt es sich nun um eine in sich geschlossene Komposition oder um eine Sammlung unterschiedlicher Arbeiten? Auch mit der neuesten Aufnahme von Harmonia Mundi bleibt diese Frage letztlich unbeantwortet (HMM 902710.11). Bestritten wird sie vom Ensemble Pygmalion unter der Leitung von Raphaël Pichon. Der 1984 geborene französische Dirigent sang schon als Kind im Chor der Petits Chanteurs von Versailles, ließ sich auf der Violine und am Klavier ausbilden und absolvierte schließlich ein Studium in Alter Musik, Musiktheorie, Chor- und Orchesterleitung am Pariser Konservatorium. Noch als Student hatte er 2006 Pygmalion gründet. Dieses Ensemble mit dem beziehungsreichen Namen besteht aus einem Chor und einer Instrumentalgruppe. Gepflegt wird schwerpunktmäßig barockes Repertoire, wobei es inzwischen auch Öffnungen hin zur Romantik gibt. Zum Einsatz kommen historisch-authentische Instrumente. Das Ensemble ist mit der Opéra national de Bordeaux verbunden. Es machte mit etlichen aufsehenerregende Produktionen – darunter die Matthäuspassion von Bach sowie Castor et Pollux von Rameau – von sich reden. Aufgenommen wurde die Vesper im Januar 2022 im Temple du Saint-Esprit in Paris, einem Sakralbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Wahl erwies sich als Glücksfall, denn der Klang ist superb, üppig und in sich gestaffelt. Es gibt einen leichten Nachhall, der aber nicht stört, weil er das Raumgefühl für die Hörer, die sich direkt dabei zu sein wähnen, verstärkt. Wenngleich unter studioähnlichen Bedingen produziert, wirkt das Werk viel unmittelbarer und lebendiger. Als Solisten sind Céline Scheen und Perrine Devillers (Sopran), Lucile Richardot (Mezzo-Sopran), Emiliano Gonzales Toro, Zachary Wilder und Antonin Rodespierre (Tenor) sowie Ètienne Bozalo, Nicolaus Brooymans und Renaud Brès (Bass) dabei. Sie gehen sicher und professionell mit den für sie gewiss nicht einfachen akustischen Verhältnissen um und bewahren sich zugleich ihre sängerische Individualität. Sie bleiben auch im Ensemble stets einzeln vernehmbar. Der Chor besteht aus achtunddreißig Sängern. Sechsundzwanzig Musiker bilden das Orchester.
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Wie bei Harmonia Mundi nicht anders zu erwarten, ist die Ausstattung der Box gediegen ausgefallen. Für das Cover bediente sich die Firma bei der namhaften französischen Malerin Fabienne Verdier und ihrem Gemälde „Air atmosphère“, das sich zu Vergleichszwecken im Booklet maßstabgerecht in seiner originalen Ausführung findet. Durch diese Illustration wird mit dem Werk eine Dimension assoziiert, die sich durchaus einstellen kann. Wer sich darauf einlässt, den zieht es – ähnlich der Darstellung – für die nächsten gut anderthalb Stunden tatsächlich wie in einen Wirbel hinein. Die Neuerscheinung hat Sogwirkung. Trotz ihrer Eingängigkeit ist die Marienvesper nichts für nebenbei. Wie formulierte es einmal ein Kritiker? Bei Raphaël Pichon sollte man unbedingt die Augen geschlossen halten. Es kann aber auch nicht verkehrt sein, hin und wieder einen Blick in den Text zu werfen, der im umfangreichen Wortteil auch in deutscher Übersetzung geboten wird, typographisch so angeordnet, dass es ein Leichtes ist, dem Inhalt zu folgen – in seiner Gottesfürchtigkeit, die keinen Widerspruch zu den Wonnen des Lebens darstellen muss. In der Marienvesper wird auch die Liebe gefeiert, nämlich dann, wenn beispielsweise im Concerto „Nigra sum“ die Rede davon ist, dass der König die braune Schönheit liebt und sie mit folgenden Worten in sein Schlafgemach führt: „Steh auf, meine Freundin und komm her!“
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Die Werkgeschichte legt im Booklet der Musikwissenschaftler und Monteverdi-Kenner Denis Morrier ausführlich dar. Danach hat im September 1610, also zwanzig Jahre nach Monteverdis Ankunft in Mantua, wo er von 1590 bis 1612 wirkte, der Drucker Ricciardo Amadino in Venedig eine einzige Sammlung veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass der Komponist bei den Gonzagas, der Herrscherfamilie des Herzogtums in der Lombardei, auch im sakralen Bereich tätig war. Diese Edition enthalte zwei Zyklen von liturgischen Werken, die sich stilistisch unterscheiden und auch verschiedenen Zwecken dienten: „Eine polyfone Messe da cappella für sechs Stimmen (die Missa in illo tempore) und vierzehn Kompositionen für die Vesper, deren heute üblicher Titel Vespro della Beata Vergine nur im (einzigen) Stimmbuch des Generalbasses“ erscheine. Während mehrere Aufführungen der Missa dokumentiert seien, gebe es keine entsprechenden Zeugnisse für die Vesper. Einige Forscher würden die Auffassung vertreten, dieses Werk sei für die Hochzeit des Kronprinzen Francesco Gonzaga geschrieben, die im Jahr 1608 stattfand. „Andere verweisen auf die ein Jahr später erfolgte Taufe von dessen Tochter Maria und den Zusammenhang zwischen ihrem Vornamen und der Adressatin der Sammlung.“ Vor etwa vierzig Jahren entwickelten Morrier zufolge die Musikforscher Graham Dixon und Paola Bessuti die Idee, wonach die Stücke nicht für einen der sieben der Seligen Jungfrau Maria gewidmeten Festtage des liturgischen Kalenders bestimmt gewesen sind, sondern vielmehr für die der heiligen Barbara, der christlichen Jungfrau und Märtyrerin. Keine dieser Hypothesen sei jemals bestätigt worden. Eine weitere, die wahrscheinlicher sei, bringt Morrier in seinem (dreisprachigen!) Booklet-Text vor: „Die Uneinheitlichkeit des Vespro bezüglich Stil, Form und Modi lässt bezweifeln, dass seine fünf Psalmen, der Hymnus Ave Maris Stella und die beiden Versionen des Magnificat (einmal mit, einmal ohne konzertante Instrumente) einen kohärenten Zyklus bilden könnten, der für eine bestimmte Vesper gedacht war. Es könnte also eher zutreffen, dass Monteverdi einfach in Gestalt eines ,Werks‘ mit dem Titel Vespro della Beata Vergine eine Anthologie separater, für unterschiedliche Zwecke komponierter Stücke für die Vesper drucken ließ, aus denen die Musiker der ,Kapellen oder fürstlichen Gemächer‘ (wie auf dem Titelblatt zu lesen ist) frei die jeweils passenden Werke auswählen konnten, je nach den Gegebenheiten des liturgischen Kalenders und den Kräften, die für den Einsatz zur Verfügung standen.“
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Und weiter ist zu erfahren, dass Monteverdis Sammlung von 1610 mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Detailgenauigkeit gedruckt wurde. Sie besteht aus sieben separaten Bänden, über die sich alle Vokal- und Instrumentalstimmen verteilen. Die Ausarbeitung der Stimmhefte lassen auf eine bestimmte räumliche Aufstellung der ausführenden Musiker schließen – Doppelchor um eine einzelne Orgel herum. Nach Morrier folgt sie genau den architektonischen Charakteristika der Kirche Santa Barbara in Mantua. Auch gehe aus ihnen hervor, dass die Stücke wohl für ein Ensemble aus solistischen Sängern und Instrumentalisten gedacht waren. Dafür spreche die Virtuosität der Gesangs- und Instrumentalpartien, insbesondere im Dixit Dominus, dem Laetatus sum und dem Laudate Pueri, dem Monteverdi übrigens die Überschrift „für acht Solostimmen mit Orgel“ gegeben habe. Die Vokalstimmen seien alle mit einer Widmung an Papst Paul V. geborener Camillo Borghese, (1552-1621) versehen. Auch wenn die Hommage nach Rom ziele und die Edition venezianisch sei, bleibe die Sammlung inhaltlich mit Mantua verbunden, was etwa der Rückgriff auf die berühmte Toccata bestätigt, die L’Orfeo einleitet. Morrier: „Diese Fanfare – ein veritables akustisches Wahrzeichen der Gonzaga – eröffnete Monteverdis erste Oper bei der Uraufführung in Mantua im Jahr 1607.“
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Der Dirigent Raphaël Pichon selbst kommt im Booklet ebenfalls zu Wort – und zwar in einem Dialog mit Jean-Clement Guez, dem Rektor der Kathedrale Saint-André von Bordeaux, wo Aufführungen der Marienvesper mit – wie es heißt – spezieller Gestaltung von Raum und Licht stattfanden. „Die Partitur ist überaus fein ausgearbeitet, sie ist wie ein Uhrwerk und zeugt von höchster Meisterschaft im Umgang mit Harmonik und Form, aber auch von theologischem Sachverstand“, sagt er. Dabei lasse sie uns Interpreten unbedingt auch Freiräume. „Dank der Vorarbeit der Pioniere der Barockmusik haben wir gelernt, die Partitur, die nach den damaligen Regeln geschrieben wurde, ,geschmeidig‘ zu machen. Aber es bleiben Fragen, die wir aufgrund von maßgeblichen künstlerischen Entscheidungen über die Interpretation beantworten müssen.“ Das Werk könne zum Beispiel mit einfach besetzten Instrumenten gespielt werden oder in einer mehr funkelnden, chormäßigen und wuchtigeren Version. Übrigens gebe Monteverdi eine gewisse Anzahl obligater Instrumente an, doch es fänden sich immer noch sehr viele Stellen, wo nichts vorgeschrieben sei. Wie unterstütze man also die Stimmen und wie gebe man ihnen mit welchen Instrumenten Farbe? In dem Dialog spricht der Dirigent auch von Zweifeln hinsichtlich der Einheitlichkeit des Klangs. Zweifel, die sich beim hören als spannungsgeladenes Erlebnis mitteilen (Abbildung oben: Fresco von Andrea Mantegna im Castello di San Giorgio zu Mantua/Camera degli Sposi/Wikipedia). Rüdiger Winter