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„Favorita del Re“ oder vielmehr „La Maitresse du Roi“ in der französischen und damit ursprünglichen Fassung lautet der Schreckensruf von Fernand, als er erfährt, dass die für keusch gehaltene geliebte Leonor bereits ein aktives Liebesleben hinter sich hat. Jedes Jahr im Herbst wird in Bergamo, der Geburtstag von Gaetano Donizetti, ein ihm gewidmetes Festival veranstaltet, in dem 2022 Valentina Carrasco darüber nachdachte, in welcher Epoche die bittere Erkenntnis von der Nichtjungfräulichkeit der Braut eine Tragödie auslösen könnte. Zwar ist das Personal der Oper historisch nachweisbar, hatte König Alfons XI. tatsächlich eine Geliebte mit Namen Leonora di Guzman, die allerdings nicht jung verstarb, sondern ihm ein knappes Dutzend Kinder gebar.
Die Regisseurin unterstellt der Zeit noch vor der Reconquista mehr Freizügigkeit als der Entstehungszeit der Oper und versetzt deswegen die Handlung in die Lebenszeit Donizettis, womit allerdings noch lange nicht die Frage geklärt ist, wie es einem Novizen gelingen kann, als Feldherr zu brillieren und die Spanien besetzt haltenden Mauren zu besiegen. Als weiterer Stolperstein erwies sich das für eine französische Oper unverzichtbare Ballett, dem Dirigent Riccardo Frizza zwar zumindest teilweise musikalische Qualitäten bescheinigt, das jedoch eigentlich nichts mit der Handlung zu tun hat, außer sie zu unterbrechen.
Die Regie in Bergamo lässt zur Ballettmusik in dieser Version der Favorite eine Gruppe älterer Damen ihren Betten entsteigen und sich einer ausgedehnten Morgentoilette einschließlich Zähneputzen widmen, womit auch die Frage nach dem Sinn von vielen verhüllten Kästen, die in den beiden ersten Akten die Bühne zustellten, beantwortet wird (Bühne Carles Berger und Peter van Pret). Die sich zeitweise in Tüllröcke (Ballett!) hüllenden Damen aus der Bevölkerung von Bergamo sollen die abgelegten Geliebten des Königs sein und rücken diesem auch einmal bedrohlich auf den Leib. Das Ballett dürfte Anlass für die größte Verlegenheit der Regie gewesen sein, denn ansonsten nimmt die Handlung, abgesehen davon, dass die Kostüme mit Hosenträgern und Kummerbund für die Herren (Silvia Aymonino) nicht ins 14. Jahrhundert passen, mit vielem Schreiten für das Personal ihren Lauf und stört die Sänger nicht bei ihrer eigentlichen Beschäftigung, dem Singen.
Das allerdings gibt durchaus Anlass zur Freude. Annalisa Stroppa hat einen auch für Rossini bestens geeigneten Mezzosopran mit einheitlicher Färbung für den gesamten Stimmumfang, klar konturiert und von schlankem Ebenmaß. „Oh mon Fernand“ klingt schön und die Herzen berührend, für die Cabaletta steht der attraktiven Sängerin das notwendige vokale Feuer zur Verfügung. Ein optisch höchst attraktiver Alphonse XI ist Florian Sempey, der seinen lyrischen Bariton sehr unter Druck setzt, manchmal recht dumpf klingt, aber die Gewähr für eine idiomatische Verkörperung der Partie bietet. Ebenso attraktiv, dazu balsamisch Glaubensgewissheit verkündend, ist Evgeny Stavinsky als Balthazar, der sich nur im Presto auch einmal hohl anhört. Erfüllen diese Drei optisch alle Anforderungen an heutige Opernsänger, so fällt Javier Camarena in dieser Hinsicht doch etwas aus dem Rahmen, kann es sich jedoch leisten, weil er schließlich Tenor und dazu noch einer der spektakulärsten für dieses Fach ist. Sein Fernand verfügt über eine strahlende Höhe, ein beachtliches Falsettone für die allerextremsten Töne, eine solide Mittellage und singt ein wunderschönes, inniges „ Ange si pur“. Edoardo Milletti als Don Gaspar und Caterina Di Tonno als Inés sorgen zusätzlich neben dem Chor aus Bergamo und dem Coro dell‘ Accademia Teatro alla Scala und dem Orchestra Donizetti Opera unter Riccardo Frizza dafür, dass sich man doch eher in einer italienischen als einer französischen Oper wähnt und darüber ganz und gar nicht böse ist.
Dem Genueser Label Dynamic ist es einmal mehr zu verdanken, dass man am italienischen Opernleben teilnehmen kann, nicht nachvollziehen allerdings kann man, dass diese Produktion den Abbiati Prize 2022 in Italien gewonnen hat (Dynamic 57992). Ingrid Wanja