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Liedaufnahmen erfreuen sich anhaltender Konjunktur. Einst gingen in den Studios Sängerinnen und Sänger gemeinsam mit ihren Begleitern auf der Suche nach Vollendung im Ausdruck bis an ihre Grenzen ihrer Fähigkeiten. Vom britischen Produzenten Walter Legge (1906-1979) ist ein Satz überliefert, mit dem er seinen hohen Anspruch zusammenfasst: „Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden.“ Legge betreute viele Einspielungen aller Genres, die nie vom Markt verschwunden sind. Hugo Wolf stand im Zentrum. Das weit verbreitete Interesse am Lied dürfte auch seinem nachhaltigen Wirken zu danken sein. Mit den Jahren ist das Spektrum immer breiter geworden. Es tauchen Komponisten aus der Vergangenheit auf, die aus sehr unterschiedlichen Gründen in Vergessenheit gerieten. Bernhard Sekles (1872-1934) ist einer von ihnen. Er studiere am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Mai bei Engelbert Humperdinck. Nach der Ausbildung zum Dirigenten wirkte an Opernhäusern und kehrte 1923 als Direktor an das Konservatorium zurück. Dort gründete es gegen den Protest konservativer Kreise die europaweit erste Jazz-Klasse. Die Nationalsozialisten entfernten den gebürtigen Juden 1933 aus seinem Amt und verboten seine Werke. Der reiche kompositorische Nachlass von Sekles ist kaum erschlossen.
Doch es kommt Bewegung auf. Innerhalb kürzester Zeit sind gleich zwei Alben mit Liedern auf den Markt gelangt. Von hr2, dem Kulturprogramm des Hessischen Rundfunks hat Hänssler Classic Lieder und Klavierwerke übernommen (HC 22008). Die Sopranistin Tehila Nini Goldstein singt den Zyklus Aus Schi-King. Dabei handelt es sich um achtzehn Lieder für hohe Stimme und Klavier nach der Übertragung ins Deutsche von Friedrich Rückert op. 15 – so der vollständige Titel. Der Legende nach sollen die Lieder vom chinesischen Philosophen Konfuzius gesammelt worden sein, was sich in neuen Forschungen aber nicht bestätigte. Sekles erfand dazu eine Tonsprache in teils kräftigen Farben, denen die Sängerin, die sich bei Hänssler auch mit anderen Wiederentdeckungen von in Vergessenheit geratenen Komponisten einen Namen machte, engagiert gerecht zu werden versucht. Im Booklet sind die Texte abgedruckt. Begleiter ist der russische Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov, der an der Musikhochschule „Franz Liszt“ in Weimar und an der Universität in Jena lehrt. Er bestreitet die zweite CD des Albums mit Fantasietten, 23 kleinen Stücken für Klavier solo, op. 42 und steuert zudem einen sehr informativen Textbeitrag über Sekles bei. Bei Toccata Classics hatten sich zuvor der Tenor Malte Müller und der Pianist Werne Heinrich Schmidt ebenfalls dem Liedschaffen von Bernhard Sekles zugewandt (TOCC 0651). Im Zentrum ihrer CD steht ebenfalls der Schi-King-Zyklus. Laut Onlinedatenbank LiederNet ist Sekles der einzige Komponist, der sich den Versen zuwandte.
Bei Toccata Classics wandten sich der Tenor Malte Müller und der Pianist Werne Heinrich Schmidt seinem Liedschaffen zu (TOCC 0651). Im Zentrum ihrer CD steht der Zyklus Aus Schi-King op. 15. Der Legende nach sollen die Lieder vom chinesischen Philosophen Konfuzius gesammelt worden sein, was sich in neuen Forschungen aber nicht bestätigte. Sekles griff auf die Nachdichtung von Friedrich Rückert zurück und erfand dazu eine Tonsprache in teils kräftigen Farben, denen der Sänger engagiert gerecht zu werden versucht. Laut Onlinedatenbank LiederNet ist Sekles der einzige Komponist, der sich den Versen zuwandte.
Seinen russischen Zeitgenossen Nikolai Medtner (1880-1951) widmet Brilliant Classic eine Edition der kompletten Lieder, die inzwischen bei Volume 4 angelangt ist (96066). Medtner, der ein Gegner der Oktoberrevolution war, emigrierte 1921 zunächst nach Berlin und lebte drei Jahre in der Stadt. Er hatte deutsche Wurzeln. Daraus erklärt sich auch seine geistige und künstlerische Nähe zu Deutschland. Seines ehr traditionellen Stils wegen nannten ihn Kritiker den „russischen Brahms“. Die neue Einspielung entstand 2022 in den Niederlanden und besteht aus Lieder nach Texten von Goethe und Heine. Sie sind in vier Werkgruppen unterteilt. Alle Lieder der Sammlung werden von der Mezzosopranistin Ekaterina Levental dargeboten. Ihr Begleiter ist Frank Peters, der am Amsterdamer Konservatorium studierte und nun dort auch selbst lehrt. Die Sängerin stammt aus Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans, und durchlief ihre musikalische Ausbildung in Den Haag, Detmold und Rotterdam. Sie ist international aktiv und vielseitig unterwegs – auch als Opernsängerin. Ihr Interpretationsansatz wirkt etwas zu robust und zu dramatisch. Die Stimme findet nur selten in lyrische Ausdrucksbereiche. Vor allem jene Lieder, die auf sehr bekannte Gedichte Goethes zurückgehen wie Nachtlied II („Über allen Gipfeln ist Ruh'“) oder Mignon („Nur wer die Sehnsucht kennt“) lassen entsprechendes Einfühlungsvermögen vermissen. Hinzu kommt, dass die Sängerin im Umgang mit der deutschen Sprache nicht genug geübt ist, um sich präzise verständlich zu machen.
Insomnia. Diesen Titel haben Katharina Konradi und der Pianist und Gitarrist Ammiel Bushakevitz ihrer CD mit Liedern von Franz Schubert gegeben. Sie ist bei BR Klassik/Berlin Classics herausgekommen (0302961BC). Warum Insomnia, wird die aus Kirgisistan stammende Sängerin, die mit fünfzehn Jahren nach Deutschland kam und hier ihre neue Heimat fand, im Booklet von jemanden gefragt, der sich nicht zu erkennen gibt: „Wenn man schlecht schläft, bzw. die Nächte wach liegt, kommen dem Menschen allerlei Bilder, Fantasien und Gefühle ins Gemüt, die einem unter der Einwirkung der Dunkelheit oder der Dämmerung meistens konfus, übergroß und sehr existenziell vorkommen. So ist es bei unserer Lied-Auswahl: Die Stücke behandeln die großen Gefühle wie Liebe, Tod, Hass, Sehnsucht unter dem Brennglas nächtlichen Empfindens.“ In der Trackliste tauchen sehr bekannte und weniger bekannte Titel auf. Der Zwerg ist dabei, Nacht und Träume, An den Mond, Ständchen. „Der Vollmond strahlt auf Bergeshöh‘n“, die Romanze aus der Schauspielmusik zu Rosamunde gehört zu den Werken, die Bushakevitz nach eigenem Arrangement auf der Gitarre begleitet. Zu Nacht und Träume hätte man sich am Ende doch lieber das Klavier gewünscht, das weiche, sanfter und entrückter klingt als das Lauteninstrument.
Das tschechische Label Supraphon hat für eine CD mit Gesängen aus Des Knaben Wunderhorn von Gustav Mahler den deutschen Bariton Peter Schöne engagiert (SU 4322-2). Das hat den Vorteil, dass er als Muttersprachler sehr wissend mit den Texten von großer literarischer Qualität umgehen kann. Schöne ist seit 2017 Mitglied des Saarländischen Staatstheaters und gibt neben seinen Opernauftritten Lieder- und Konzertprogramme. Begleitet wird er vom Prager Philharmonia Octet. Dadurch gewinnen die Gesänge an kammermusikalischer Durchsichtigkeit. Für die Aufnahme wurde eine spezielle Zusammenstellung getroffen. Schöne singt nicht alle zwölf Titel jener zwischen 1892 bis 1898 entstandenen Gedichtsammlung für Singstimme und Orchester, die erst später als Zyklus ein Eigenleben zu führen begann. Es fehlen Verlorene Müh‘, Trost im Unglück, Wer hat das Liedlein erdacht? und – was schade ist – Revelge. Dafür wurden Urlicht (vierter Satz der zweiten Sinfonie) und „Es sungen drei Engel“ (fünfter Satz der dritten Sinfonie), die ursprünglich Teile der Orchesterlieder waren, wieder hinzugenommen. Unterbrochen werden die Gesangsnummern mit Scherzo und Blumine, zwei Sätzen aus Urfassung der 1. Sinfonie, die alsbald verworfen wurde. Im Booklet werden die Hintergründe ausführlich beleuchtet. Rüdiger Winter