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Mit dem Glamour und der Grandeur, die jedem ihrer minutiös ausgetüftelten Auftritte die Aura des Einzigartigen verliehen, scheint der Nachruhm nicht Schritt zu halten. Freilich hat Jessye Norman ein umfangreiches, von Purcell bis Schönberg reichendes Erbe auf CD hinterlassen, aber man muss sie live erlebt haben, um das Gesamtkunstwerk Jessye Norman zu erfassen.
Mit einer drei Alben umfassenden Ausgabe von Aufnahmen, zu deren Freigabe sie sich bis zu ihrem Tod 2019 nicht entschließen konnte und die jetzt durch Unterstützung der Familie möglich wurde, wobei Jessye Normans Haltung dazu im Lauf der Jahrzehnte offenbar nachsichtiger wurde, erinnert Decca, die das Philips Classics-Erbe der Norman übernommen hat, an die Sängerin, für die der Begriff Diva wie gemacht schien. Entstanden sind The Unreleased Masters zwischen 1989 und 1998.
Norman bewegt sich mit Wagner, Strauss, Berlioz und Haydn – sie hatte bereits in den 1970er Jahren im Rahmen der Haydn-Edition der Philips bei zwei Opern mitgewirkt – auf bekanntem Terrain; einzig Benjamin Brittens Phaedra fällt als Novität auf. Vertraut sind auch die Mitstreiter: James Levine, Seiji Ozawa und Kurt Masur. Mit Masur und dem Gewandhausorchester hatte sie eine ihrer maßstabsetzenden Aufnahmen realisiert, die 1983 veröffentlichten Vier letzten Lieder, woran sich – ebenfalls mit Masur in Leipzig – die ebenfalls sehr gute Ariadne auf Naxos anschloss.
Alle, die nun The Unreleased Masters in Händen halten, werden sich vermutlich zunächst auf die erste CD stürzen, auf der Norman mit dem Erfolgsteam zwischen dem 19. März und 1. April 1998 im Leipziger Gewandhaus die Isolde anging, die ihr letztes Opern-Projekt bleiben sollte. Im Beiheft wird vorsichtig auf „Spannungen bei den Sitzungen“ hingewiesen. In den sieben Sitzungen wurde eine gute Stunde Musik aufgenommen, darunter ein Großteil des Liebesduetts und der Liebestod. Der Eindruck ist verhalten, oft quälend. Masur dirigiert wie ausbremst, obwohl vor allem Ian Bostridge in den ersten Szenen des ersten Aktes sehr apart den Jungen Seemann singt, aber Norman wirkt als Isolde anfangs („Entartet Geschlecht“) exaltiert, unstet und starr in Ton und fremdelnd im Ausdruck, manchmal hohl in der Mittellage, gespreizt und vage in der Höhe. Es gibt in den Szenen mit der hellstimmig kurzatmigen Brangäne der Hanna Schwarz erfüllte Momente, auch in Isoldes Erzählung „Wie lachend sie mir Lieder singen“ kreiert Norman magische Phrasen, doch sie verliert sich in Detailmalerei und der Fluch bleibt merkwürdig verquollen und erkämpft. Thomas Moser ist ein mehr als achtbarer Tristan, der den untertemperierten Eindruck zunächst zu korrigieren scheint und der Norman im Liebesduett ein sensibler Verführer ist; beider „O sink hernieder“, wo Normans edles Timbre gelegentlich seinen gewohnten Reiz entfaltet, gehört zu den gelungenen Momenten der Aufnahme, ebenso der „Liebestod“, zu dem Norman bereits Alternativen mit Davis, Tennstedt und von Karajan geliefert hatte. Verständlich, dass keine Versuche unternommen wurden, das Leipziger Tristan-Projekt zu komplettieren. „Trotz des Luxus von Aufnahmesitzungen mit großzügig bemessenen Pausen, bleiben die Einspielung bei denen, die dabei waren, als eine zunehmend immer weniger zufriedenstellende Angelegenheit in Erinnerung“, so Cyrus Meher-Momji im Beiheft.
Andere Opernprojekte, Meher-Homji erwähnt eine Elektra unter Abbado, blieben Phantome.
Ohne Scheu und Vorbehalt können die beiden weiteren CDs gehört werden. Die Vier letzten Lieder und die Wesendonck-Lieder profitieren von der herzlichen Live-Atmosphäre zweier Konzerte unter James Levine mit den Berliner Philharmonikern im Mai 1989 bzw. November 1992 in der Berliner Philharmonie, die Jessye Norman auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten zeigen. Normans Stimme thront königlich vor dem Orchester, farbenreich und rund, Norman singt mit der Fülle des Klangs und der Emotionen als seien die Lieder ihr ureigenster Ausdruck. Großartig, wie sie den „Zauberkreis der Nacht“ durchschreitet oder das „Abendrot“ umschattet. Pure Magie die opalisierenden Klangreize, die sie den Wesendonck-Liedern entlockt. Der Eindruck ist ein spontaner, leidenschaftlicher und mitreißender und der Applaus, mit dem die Sängerin vor den Strauss-Liedern begrüßt wird, mehr als verdient. In diesen klanglich ausgezeichneten Aufnahmen agieren die Berliner mit bestürzender Schönheit und großartiger Spielkultur.
Bei Strauss, war es offenbar nur eine Note, die der skrupulösen Jessye Norman missfiel, bei der Bostoner Konzerten, in denen sie im Februar 1994 mit Haydns Berenice, Brittens Phaedra und der Cléopâtre von Berlioz drei antike Königinnen porträtieren, dagegen der Audiomix bei Berlioz, der jetzt für die Veröffentlichung „zufriedenstellend“ remixed wurde. Die Scena di Berenice gehörte 1795 zu den großen Erfolgen während Haydns zweitem Besuch in London. Norman singt die vierteilige Konzertarie mit dem Text Metastasios, in dem Berenice den Verlust ihres Geliebten Demetrio betrauert, mit elegant fließendem Ton, geschliffenen Akzenten in den Rezitativen und klassischem Pathos in den Arien, klar und mitfühlend. Noch leidenschaftlicher ist die dramatische Kantate La morte de Cléopâtre des 26jährigen Berlioz. Mit perfekter Artikulation, zwischen Ekstatik und Resignation wuchtig ausbalanciertem Ausdruck und gloriosen Tönen, die den Seelenzustand der innerlich zerrissenen Königin beschreiben und der Wildheit von Berlioz‘ Kantate gerecht werden, ob derer Kühnheit er den Rom-Preis verfehlte, umreißt Norman die letzten Minuten der Kleopatra vor ihrem Selbstmord, nachdem zuvor Mark Anton in ihrem Armen gestorben ist. Zurück zu barocken Mustern mit einer Folge aus Rezitativen und ariosen Teilen ging Britten in seiner 1975 für Janet Baker komponierten Phaedra nach Racine, in der sich Phaedra an die Beteiligten der Tragödie richtet und von der Liebe zu ihrem Stiefsohn und ihrem Entschluss durch Gift zu sterben berichtet. Der Audiomix wirkt tatsächlich etwas hohl, was der Wirkung auch dieser von Norman nobel und packend, wenngleich ein wenig manieriert gestalteten Szene keinen Abbruch tut. Rolf Fath