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Flüchtig und von weitem betrachtet scheint das Cover von Barrie Koskys Buch einen Markthändler bei der Anpreisung seiner Waren darzustellen, bei näherer Betrachtung allerdings stützt dieser seine ringegeschmückten Hände auf die Rückenlehne der Parkettreihe aus der Komischen Oper Berlin, von der aus er seine Anweisungen an die Bühne zu geben pflegt, und die ist im Hintergrund schattenhaft zu sehen. „Und Vorhang auf, Hallo!“ ist der ebenfalls etwas marktschreierische Titel mit dem Untertitel “Ein Leben mit Salome, Mariza, Miss Piggy & Co.“, der auf Oper, Operette und Fernsehshow gleichermaßen hinweist. Der Co-Autor ist Rainer Simon.
Nicht nach Lebensabschnitten, sondern nach Opernfiguren ist das Buch gegliedert, zu denen sich außer denen im Titel genannten noch Tatjana, Hans Sachs, Tosca und Mackie Messer gesellen, allerdings prägen diese zugleich einzelne Entwicklungsschritte des aus Australien stammenden Künstlers. Diesem fernen Erdteil und der dahin aus Europa verschlagenen Großmutter ist das erste Kapitel namens Mariza Down Under gewidmet, die nie ihre ungarischen Wurzeln und die damit verbundene Liebe zu Opern vergaß und sie schon dem Kind Barrie einzuimpfen verstand. Dieses hatte allerdings nicht nur ungarische, sondern durch andere Vorfahren auch weißrussische und polnische Wurzeln. Die Großmutter hatte eine besondere Liebe für die deutsche Sprache, die der Enkel unbedingt lernen sollte. Nicht die Welt osteuropäischer Schtetl allerdings lernte der Junge kennen, sondern die auch recht abgeschlossene der in Melbourne lebenden Juden und mit dreizehn Jahren die erste Operette, mit fünfzehn seinen ersten Tristan.
Von Gräfin Mariza in Melbourne wird der Bogen zur Tätigkeit an der Komischen Oper geschlagen, dem früheren Metropoltheater, wo der dann Intendant und Regisseur nicht etwa die von ihm der „Spießigkeit“ verdächtigten Strauß und Léhar, sondern Kalman, Straus und Abraham aufführt. Auch Felsenstein, Rothenberger und Schwarzkopf finden keine Gnade vor seinen Augen und Ohren noch der Einsatz von Opernsägern in der Operette. Die Genugtuung, die es der „kleine(n) australische(n) jüdische(n) Schwuchtel“ bereitet, quasi nachträglich noch Hitler besiegt zu haben, „da wir diese Stücke genießen“, durchzieht viele Kapitel. Daneben gibt es vieles anderes Nachdenkenswertes wie die Überzeugung, Regie solle nicht illustrieren, sondern einen Kontrast oder eine Zutat, die ergänzt, sein.
Der Großvater handelt in Australien mit Pelzen und besitzt als gebürtiger Russe eine reiche Sammlung russischer Musik, darunter viel Tschaikowski. „Jeder Takt seiner Musik….Queerness“, glaubt Kosky schon früh zu erkennen, nachdem er mit 16 seinen ersten Eugen Onegin erlebt hat. An der Komischen Oper wird er sein ganzes Augenmerk und seine Zuneigung auf Tatjana lenken und lässt den Leser an seinen Inszenierungsideen teilnehmen, die auch einen Orgasmus Tatjanas am Ende der Briefszene einschließen. Da verbindet sich das uneingeschränkte Lob für die Sopranistin Asmik Grigorian mit der Einsicht, Ausprobieren und Vertrauen zwischen Sänger und Regisseur seien wichtig, mit der rigorosen Ablehnung des „ganzen Müll, den wir schon hundertmal gesehen haben“, d.h. traditioneller Inszenierungen.
Fühlte sich der schwule Kosky besonders durch Tschaikowski angesprochen, so ist es der Jude Kosky, der Richard Wagner aus verständlichen Gründen eigentlich aus tiefstem Herzen hasst, seine Musik aber liebt, glaubt, ihn als Dubbek höhnisch auf seiner Schulter sitzend zu erleiden und erfährt, dass er ihn durch die Inszenierung der Meistersinger und ausgerechnet in Bayreuth überwinden und verscheuchen kann. Er macht aus dem Paar Sachs-Beckmesser das Wagner-Levi, aus der Handwerkerstadt Nürnberg des 16. Jahrhunderts die der Nürnberger Prozesse. Da selbst nicht mit den für einen Juden nachvollziehbaren Vorbehalten gegenüber den Meistersingern behaftet sein müssende Künstler unter Verkennung der historischen Situation die Ansprache des Sachs für “problematisch“ halten, kann man diese Position Barrie Kosky gewiss nicht nachtragen, wohl aber zweifeln an der Richtigkeit der Aussage, Wagner und andere „bereiteten mit ihrem deutschtümelnden, nationalistischen Schaffen…den Boden für die Reichsmusikkammer“. Die hätte es wohl leider auch ohne Meistersinger gegeben.
Miss Piggy, der „drag-queen der Popkultur“, die Nurejew zum Sex bewegen will, ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem auch auf Musicals wie Ein Käfig voller Narren eingegangen wird. An Wildes Salome, einem Text, der Queerness atmet, reizt ihn der Geruch eines „in Fäulnis verfallenden Pfirsichs“, lässt Verwunderung darüber aufkommen, dass „einer der spießbürgerlichsten Komponisten“, den Kosky eigentlich nicht mag, „eine solche“, d.h. wunderbare Musik schreibt. Sicherlich haben viele Zuschauer sich wie Kosky selbst an dessen Regieideen, so der von ihm gesehenen Nekrophilie Salomes berauscht, ob sie auch den Haarstrang, den sie sich aus der Vagina zieht, deuten konnten oder wie Kosky meinten: “Sie bläst ihm einen“, sei dahin gestellt. Aber immer noch nachvollziehbarer als die auch von Kosky verdammte Darstellung der Salome als die eines Kindesmissbrauchs.
Im Kapitel über Tosca setzt der Regisseur Puccinis Opern mit Hollywoods Melodramen in Beziehung, lässt den opernliebenden Leser aber über einige Ungenauigkeiten stolpern. Da ist einmal ein Foto von Corelli als Don Josè, das ihn angeblich als Cavaradossi darstellt, der aber nie eine spanische Uniform trug. Da wird behauptet, Scarpia wolle Tosca in ihrer Wohnung vergewaltigen und diese sei durchaus fasziniert von Scarpias Brutalität. Da wird Cavaradossi als „selbstverliebt“ und „eitel“, als Narzisst diffamiert, was vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass Kosky in seiner Jugend viele ihm als Cavaradossi erscheinende Lehrer und Mitschüler anhimmelte und nie erhört, ja wohl nicht einmal wahrgenommen wurde. Auch wird nicht jeder Zuschauer wie Kosky in Tosca eine queere Oper sehen, nur weil „all die Körpersäfte, der Schweiß, die Tränen, das Sperma (!), die Tosca auszuscheiden scheint….Ingredienzien queeren Kulturschaffens sind“. Boleslav Barlog an der Deutschen Oper meinte, Cavaradossi glaube an seine Rettung, Kosky vertritt die Ansicht, er stelle sich im dritten Akt nur tot- „mit verheerenden Folgen“. Allerdings, denn wie soll es dann weitergehen? Schüttelt man hier und da den Kopf, überzeugt anderes wieder wie der Bericht über Vorarbeiten zu einer Inszenierung, die allmähliche Entwicklung derselben während der Probenarbeit.
Bereits in der Schule hatte Kosky Weill inszeniert, in der Dreigroschenoper sieht weder ein Meisterwerk „noch ein politisches Bühnenmanifest“, und diese Einsicht bestimmte auch seine Inszenierung am Berliner Ensemble.
Der Epilog ist noch einmal ein Bekenntnis zur Gattung Oper und zum Opernerleben, der Chance, „einen flüchtigen Blick in unser Innerstes zu erhaschen“. So endet ein sehr ehrliches, überschwängliches, nicht in allem und von jedem nachvollziehbares Bekenntnis zur Oper, die wir alle lieben( 250 Seiten Insel Verlag Berlin 2023; ISBN 978 3 458 64370 8). Ingrid Wanja