Ein anderes Abendrot

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Im Abendrot. Drei Namen prangen auf dem Cover der Neuerscheinung von Bayer Records: Wilhelm Furtwängler, Anton Beer-Walbrunn und Josua Benjamin Carnap (BR 100 411/412). Bei Furtwängler denkt man reflexartig an den Dirigenten mit seiner epochalen Bedeutung. Doch Beer-Walbrunn und Carnap? Haben die auch dirigiert? Wohl kaum. Was ist es dann, was die drei verbindet? Sie komponierten. Der 1886 geborene Furtwängler war der Jüngste. Zunächst von Mutter und Tante im Klavierspiel unterrichtet, kam er als Elfjähriger in die Hände von Beer-Walbrunn (1864-1929), der nach seiner Lehrerausbildung ein Studium an der Musikakademie München bei Josef Gabriel Rheinberger begonnen hatte, das er 1891 mit einem Ehrenpreis für Komposition erfolgreich abschloss. Carnap (1867-1914) stammte aus einer Wuppertaler Fabrik, die verschiedene Bänder herstellte. Er absolvierte eine Ausbildung im Unternehmen des Vaters und siedelte nach dessen Tod mit seinem Erbe, das ihn unabhängig machte, nach München über. Dort widmete er sich ganz seiner inneren Berufung, der Musik. In Beer-Walbrunn fand er einen engen Freund. Obwohl er sich schon in seiner Heimatstadt auch musikalisch betätigte, in einem Streichquartett mitgespielt und ehrenamtlich Gesangsvereine geleitet hatte, nahm er mit 38 Jahren bei dem fast gleichaltrigen Beer-Walbrunn ein Kompositionsstudium auf. 1914 wurde er kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges als Hauptmann und Kompanieführer an der Ostfront in Galizien eingesetzt, wo er noch im selben Jahr an einer schweren Verwundung starb. Weitere biographische Einzeiheiten finden sich im Text des Booklets von Martin Valeske nicht hervor.

Das Lied Im Abendrot, das der Edition ihren Namen gibt, komponierte Carnap nach einem Text von Joseph von Eichendorff. Als Teil eines Zyklus erschien es 1913 im Druck. Es sollten mehr als dreißig Jahre vergehen, bis Richard Strauss mit demselben Gedicht sein musikalisches Schaffen ausklingen ließ. Obwohl zuerst vertont, steht es am Ende der „Vier letzten Lieder“: „O weiter stiller Friede! / So tief im Abendrot, / Wie sind wir wandermüde – / Ist das etwa der Tod?“ So schön wie bei Strauss stirbt es sich bei Carnap nicht. Würde es eine Orchesterfassung geben, wäre der Eindruck gewiss noch eine ganz anderer. Carnap hat eine sehr eingängige und schlichte Melodie erfunden, die zu ähnlichen Wirkungen gelangt wie bei Strauss. Der Tod als Versöhner. Nicht als das unausweichliche Ende, dem nichts mehr folgt, sondern als der Eintritt in eine neue, überirdische Existenz. Obwohl Eichendorff nach Goethe und Heine als einer der am häufigsten vertonten Dichter in der Liederliteratur ist, für sein Abendrot finden sich in der einzigartigen Online-Datenbank LiederNet neben Strauss nur vier Komponisten, die es in Noten setzten: Heinrich von Herzogenberg (1843-1900), Ernst Pepping (1901-1981), Karl Rausch (1880-1951) und Hermann Zilcher (1881-1948). Josua Benjamin Carnap ist noch gar nicht berücksichtigt, was sich jetzt ändern dürfte, denn die Datensätze werden regelmäßig aktualisiert. Und er ist neben Strauss der einzige, dessen Komposition auch zugänglich ist.

Wie die gesamte Lyrik Eichendorffs haben auch diese Verse den musikalischen Fluss schon in sich. Als klinge es aus den Worten – noch bevor ihnen Töne unterlegt wurden. Entsprechend seiner Bedeutung ist lediglich Eichendorff als Textdichter auf dem Cover der Box namentlich genannt, obwohl nur sieben von insgesamt 31 eingespielten Liedern auf ihn zurückgehen. Beer-Walbrunn ist mit drei Titeln vertreten: Trost, Der brave Schiffer und Der Glücksritter. Er pflegt einen effektvollen Stil und bringt in seine Kompositionen auch theatralische Momente ein, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Kein Wunder, dass sich auch Furtwängler bei Eichendorff bediente. Er litt sein Leben lang daran, dass er vornehmlich oder fast ausschließlich als Dirigent wahrgenommen wurde. Seine eigentliche Berufung sah er als Komponist. „Ich will komponieren und eigentlich nichts als komponieren. Dass meine Produktion nicht Ausfluss irgendeines Spieltriebs oder einer Eitelkeit, auch nicht irgendeiner Selbsteinbildung, sondern für mich die ernsthafte und entscheidendste Sache im Leben sei, ist mir seit langem klar. Meine Dirigentenkarriere ist ernsthafter Erwähnung nicht wert. In Wirklichkeit war das Dirigieren das Dach unter das ich mich im Leben geflüchtet habe, weil ich im Begriff war als Komponist zu Grunde zu gehen“, heißt es in einem Brief an den Archäologen Ludwig Curtius (zitiert nach Wikipedia). Furtwängler hinterließ ein sehr umfangreiches kompositorisches Werk, das noch wenig erschlossen ist. Darunter sind zahlreiche Lieder. Für die Edition wurde der Schatzgräber gewählt. Anders als Goethe lässt Eichendorff seinen umtriebigen Gesellen unter Steinen begraben. Furtwängler hat dafür ein unheimlich pochendes Motiv gefunden, das sich dem Zuhörer schnell einprägt. Eine gefällig anmutende Mitteilsamkeit wohnt den meisten dieser spätromantischen Gesänge inne. Doch die Moderne deutet sich schon an, ist allenthalben zu spüren – und zu hören. Besonders auffällig ist das bei Beer-Walbrunn, von dem die meisten Lieder stammen. Bayer Records hat ihm schon in der Vergangenheit große Aufmerksamkeit gewidmet. Mit der Neuerscheinung ist nunmehr sein Liedschaffen komplett auf CD dokumentiert. Wie der Komponist künstlerisch auch mit der Form rang, wird am Lied Hoffnung von 1891 deutlich, für das er selbst den Text verfasste. Mit siebeneinhalb Minuten sprengt es den in diesem Genre üblichen Rahmen.

Neben Eichendorff sind Textdichter vertreten, die in der Liedliteratur häufig anzutreffen sind, darunter Otto Julius Bierbaum (1865-1910, Detlev von Liliencron (1844-1909), Richard Dehmel (1863-1920), Ludwig Uhland (1787-1862) und Emanuel Geibel (1815-1984). Alle Gedichte finden sind im umfänglichen Booklet abgedruckt. Veränderungen, die während der Kompositionen auch der besseren Singbarkeit wegen vorgenommen wurden, sind akribisch dokumentiert. Die Sopranistin Angelika Huber bestreitet das ganze Album allein. Mit erstaunlicher Professionalität erfasst sie die unterschiedlichen Situationen und Stimmungen. Mitunter wünschte man sich etwas mehr Farbe in der Stimme. Begleitet wird sie von Mamikon Nakhapetov, der noch Klavierstücke von Beer-Walbrunn beisteuert. In einem umfangreichen Beitrag betätigt sich die Sängerin auch musikwissenschaftlich, indem sie alle Titel genau analysiert. Sie ist vor allem auf solche Liedkomponisten spezialisiert, deren Werke in Vergessenheit geraten sind. Mit ihrem Engagement will sie dieses Erbe zurückgewinnen.

Für zwei Komponistinnen, die den ihr zustehenden Platz in Konzertbetrieb und Musikindustrie auch noch nicht gefunden haben, setzt sich Bettina Pahn – Sopran wie ihre Kollegin Angelika Huber – ein. Gemeinsam mit der Pianistin Christine Schornsheim nahm sie Lieder von Clara Schumann und Fanny Hensel auf, die bei Hänssler Classic herausgekommen sind (HC20026). Beide Frauen haben zahlreiche Werke hinterlassen, die immer noch nicht vollständig erschlossen sind. Während Clara von ihrem Ehemann Robert zu eigenen Kompositionen angehaltenwurde, hatte Fanny, die Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy, in ihrer Familie mit eigenen künstlerischen Ambitionen nicht den leichtesten Stand. Mit der Auswahl hatten die Sängerin und ihre Pianistin eine glückliche Hand. Wer sich in die Neuerscheinung versenkt, wird sich nicht entscheiden können, welchem Lied der Vorzug zu geben ist, zumal unter den Textdichtern die ganz großen Namen sind – Heinrich Heine zum Beispiel, den beide Komponistinnen auch persönlich begegnet sind. Clara Schumann hat seine Loreley meisterlich vertont. Eingeleitet wird die CD mit dem innigen Ave Maria von Fanny Hensel nach einer Vorlage von Walter Scott. Dabei handelt es sich – wie aus dem Booklet hervorgeht – um eine der frühesten Kompositionen. Zwischendurch sind als willkommene Ergänzung Klaviersolostücke zu hören. Rüdiger Winter