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Bei keinem anderen Sinfoniker spielt die Frage der jeweiligen Fassung eine so essentielle Rolle wie bei Bruckner. Im Zuge seiner großangelegten Gesamtaufnahme, dem Projekt BRUCKNER2024, legt der Bruckner-Spezialist Gerd Schaller mit seiner Philharmonie Festival nun die 1874er Urfassung der Sinfonie Nr. 4 in Es-Dur, der Romantischen, vor (Profil Hänssler CD PH22010). Üblicherweise erklingt bis heute die Fassung von 1878/80, entweder in der Edition von Robert Haas oder in der Edition von Leopold Nowak. Beide dominieren die sehr breite Diskographie eindeutig. Dagegen spielen die Bearbeitung von Ferdinand Löwe (1888) und jene von Gustav Mahler (1895) – neu orchestriert – heutzutage praktisch keine Rolle mehr. Die Originalfassung von 1874, die hier nun vorgelegt wird, erfuhr erst 1982 eine erste Studioeinspielung unter Eliahu Inbal (Teldec). In den letzten vierzig Jahren kamen in etwa ein Dutzend Aufnahmen hinzu. Schallers Neueinspielung stellt tatsächlich die erste seit anderthalb Jahrzehnten dar (Jakub Hrůša entschied sich bei Accentus 2020 für eine revidierte Variante von 1876).
Die Unterschiede zur bekannten Spätfassung sind im Falle der Romantischen wirklich frappierend, schließlich hat Bruckner später zwei ganze Sätze und den halben Finalsatz neu komponiert. Im kenntnisreichen Einführungstext räumt Gerd Schaller mit einigen Klischees auf und betont des Komponisten eigenen Anspruch, eine ideale Sinfonie zu schaffen, als wichtigsten Grund für die zahlreichen Revisionen vieler seiner Werke. Schaller sieht in der Urfassung der Vierten jedenfalls „streckenweise […] ein komplett anderes Werk“ als die üblicherweise gespielte Version. Tatsächlich tut sich ein insgesamt spröderer, aber auch modernerer Gesamteindruck auf, den Bruckner später abmilderte. Die meisten Zeitgenossen waren jedenfalls vom Höreindruck des Originals einigermaßen überfordert. Die von Bruckner selbst postulierte Beethoven-Nähe ist hier indes viel stärker ausgeprägt und weit entfernt von einer etwaigen Programmmusik. Schaller nennt diese Erstfassung zuletzt gar seinen persönlichen Favoriten, was die Romantische anbelangt.
Der Höreindruck weiß vollauf zu überzeugen, was auch an der hervorragenden Akustik des Klosters Ebrach liegt, in welchem die Aufnahme in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk am 25. Juli 2021 eingespielt wurde. Die geübten Tontechniker haben mittlerweile ein besonderes Händchen für die Räumlichkeit der ehemaligen Zisterzienserabtei. Schaller betont in seiner Lesart das romantische Element und liefert ein flammendes Plädoyer für diese frühe Fassung, unterstützt durch seinen in diesem Repertoire mustergültig aufspielenden Klangkörper mit strahlenden Blechbläsern und grollenden Pauken. Zu besonderen Höhepunkten geraten jeweils die Codas der vier Sätze (20:31 – 18:58 – 14:19 – 19:31). Eine moderne Referenz und somit eine uneingeschränkte Empfehlung. Daniel Hauser