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Was haben Umberto Giordanos Andrea Chénier und seine Fedora, was seine Siberia nicht hat? Die opernübliche Dreickskonstellation Sopran-Tenor-Bariton gibt es auch in Siberia, dem „Improvviso“ Chéniers ist Wassilis „Orride steppe“ durchaus ebenbürtig, der „Mamma morta“ Maddalenas ebenso Stephanas „Infinito dolore!“ , Glébys „La conobbi quand‘ era fanciulla“ kann es getrost mit „Nemico della patria“ aufnehmen, und Librettist Illica war eigentlich der Garant für einen Erfolg. Selbst die Ansiedlung zumindest des ersten Aktes von Fedora nach Russland hatte den zumindest vorübergehenden Triumph des Werkes nicht verhindern können, so dass man sich des Gedankens nicht erwehren kann, es sei die Tatsache, dass Enrico Caruso Chénier ebenso wie Loris aus der Taufe hob, der Grund für den rauschenden Erfolg der beiden ersten Opern Giordanos war.
Allerdings zeigte sich auch Siberia mit Rosina Storchio und Giovanni Zenatello hoch besetzt bei der Uraufführung 1903 an der Mailänder Scala. 1905 erlebte eine zweite Version ihre Uraufführung in Paris (Lina Cavalieri und Lucien Muratore), 1927 kehrte die Oper in einer dritten Fassung an die Scala zurück. 1931/ 1933/ 1937/ 1938/ 1943 – 43 hielt die Römische Oper Siberia mit verschiedenen Produktionen im Programm. 1947 gab es eine Produktion an der Scala. 1974 dann eine Aufführung durch die RAI Turin (mit Luisa Maragliano; der kluge Celetti gibt allerdings Mailand als Aufführungsort an). 1999 wurde das Werk in Wexford gespielt (Elena Zelenskaia). 2003 erfreute Siberia die Zuschauer im immer experimentierfreudigen Martina Franca (die temperamentvolle Francesca Scaini, ebenfalls bei Dynamic/CD 444/1-2 zu erleben). Bereits 2017 sang Sonya Yoncheva die Stephana in Montpellier. 2015 konnte man Siberia am Conservatorio di Milano und 2018 im Teatro Regio di Torino erleben.
Mitten in der Corona-Pandemie entstand die nun auf DVD und CD vorliegende Aufführung vom Maggio Musicale Fiorentino , die in der Regie von Roberto Andò der nicht ganz neuen Idee folgt, das Stück als Theater auf dem Theater oder vielmehr als Herstellung eines Films mit dem Sujet Siberia zu zeigen. So rücken immer wieder Kameraleute, Scriptgirls, Regisseur den Darstellern auf die Haut, ist der Hintergrund mit Video-Szenen aus dem Lagerleben in Sibirien bedeckt, wobei nicht klar wird, ob Zar oder Stalin, dessen Bild als das des im dritten Akt besungenen Erlösers erscheint, der Diktator ist, im ersten Akt Uniformen aus der Zarenzeit, im zweiten und dritten aus der Sowjetzeit getragen werden. Die Kostüme von Nanà Checchi sind natürlich nur für den ersten Akt aussagekräftig und verweisen in die modisch uninteressanten Fünfziger, später trägt man zeitlose Lagerklamotten. Ganz zum Schluss taucht das Logo von Cinecittà auf, und heftige Wolkenformationen unterstreichen gern die Dramatik der Handlung (Bühne und Licht Gianni Carluccio).
Dass Giordano das Russische an seinem Sujet ernst nahm, zeigt sich einmal in der Verwendung russischen Liedguts, so des „Ey uchnem“ der Wolgaschlepper, russischer Instrumente wie der Balalaika, und es wird auch in der weiblichen Hauptfigur, der Stephana, sichtbar, die als Fremdartige mit sündigem Lebenswandel an Gestalten wie die Sonja in Schuld und Sühne, die Gruschenka in Die Brüder Karamasow oder die Katjuscha in Auferstehung erinnert. Ihnen wohnt inne, was Giordani von seinem Librettisten forderte: passione, colore e calore. Die lässt auch Gianandrea Noseda mit dem Orchester des Maggio Fiorentino nicht vermissen, so wie der Chor trotz Maskentragens in der Einstudierung von Lorenzo Frantini die Klagen der nach Sibirien Verbannten wie die Beschwörung der Auferstehung effektvoll zu Gehör bringt.
Vorzüglich ist die Besetzung, allen voran Sonya Yoncheva als Stephana (erprobt 2017 in Montpellier) mit sanftem, lyrischem Auftrittslied und gleich darauf folgendem hymnischem „Sei giovane! Soldato!“ einer wunderschön timbrierten, ideal fokussierten Sopranstimme, sicherer Höhe im Liebesduett des zweiten Akts und einer so souverän wie berührend gestalteten Schlussszene. Die Wandlung von der Luxusmätresse zur freiwillig alle Strapazen der Verbannung auf sich nehmenden, wahrhaft Liebenden vermittelt die Sängerin höchst überzeugend. Ihr Partner ist der junge georgische Tenor Giorgi Sturua, dessen noch lyrische Stimme zu großen Hoffnungen berechtigt, ein sehr schönes Timbre ihr Eigen nennt und in der Höhe noch ausbaufähig erscheint. Ein Routinier im besten Sinn und souverän seine Aufgaben meisternd ist George Petean als der fiese Zuhälter Gléby, den er facettenreich im Spiel und prachtvoll im Gesang darstellt. Es gibt eine Vielzahl kleiner Rollen, darunter die der Haushälterin Nikona, von Caterina Piva mit scharfem Mezzo verkörpert, den Diener Ivan, dem Antonio Garés einen frischen, herben Tenor verleiht, den Prinzen Alexis, Giorgio Misseri mit ausdrucksstarkem Charaktertenor, eine Fanciulla mit dem frischen Sopran von Caterina Meldolesi, während im Lager als Aufseher wie Verbannte viele sonore tiefere Stimmen zu goutieren sind.
Eine „klassische“, traditionelle Inszenierung wäre dem Werk sicherlich dienlicher gewesen, um ihm die wünschenswerte Eroberung weiterer Bühnen zu ermöglichen, auf jeden Fall ist es das Verdienst des Genueser Labels Dynamic, ein größeres Publikum mit einer durchaus repertoirefähigen Oper bekannt gemacht zu haben (Dynamic 37928, dazu auch der Audio-Soundtrack auf Dynamic CDS7928.02 mit Booklet und Libretto/ weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja