Die junge schweizerische Sopranistin Franziska Heinzen und der Pianist Benjamin Mead sind seit 2014 ein produktives Duo. 2021 kamen gleich zwei CDs heraus – sozusagen ein Doppel-Debut. Einmal geht es um die legendäre Group de Six und vielen überraschenden Liedkompositionen aus diesem Umfeld. Das andere, brandneue Release präsentiert 24 erstaunliche Liedkompositionen – ausschließlich von Komponistinnen. Unbekannte Lieder erforschen und die Musik zu den Menschen bringen – der künstlerische Idealismus von Franziska Heinzen reicht weit. Gelegenheit zum ausgiebigen Gespräch mit Stefan Pieper gab es am Rande eines von ihr veranstalteten Konzertes im Rahmen des schweizerischen Rhonefestivals für Liedkunst in der wunderbaren Atmosphäre des Schlossparks im walisischen Brig.
In welcher Beziehung stehen die beiden jüngsten CD-Produktionen zueinander? Die erste der beiden CD haben wir der „Group de Six“ gewidmet. Sämtliche Liedkompositionen sind vom schnellen, urbanen Leben in Paris inspiriert. Die zweite CD ist thematisch das Gegenteil davon. Hier besteht Gelegenheit, sich wieder auf das Leise, Tiefe und auf die Ursachen zu besinnen.
Sie haben für beide Projekte in kurzer Zeit extrem viel Repertoire zusammengetragen. Kann man hier von einem Schaffensrausch reden? Die Projekte sind längerfristig angelegt gewesen. Wir haben überlegt, zu welchem idealen Zeitpunkt wir die beiden Releases herausbringen. „Le Group de Six“, jenes einflussreiche Pariser Künstlerkollektiv feierte im letzten Jahr ein 100jähriges Jubiläum. Wir wollten diese CD daher letztes Jahr im April aufnehmen und dann im Oktober herausbringen. Aber wegen Corona mussten wir alles nach hinten schieben. Das „Komponistinnen“-Projekt haben wir schon 2019 begonnen. Da war der Aufhänger das „Schumann-Jahr“, dem wir dadurch Rechnung trugen, dass wir jedes Konzert mit einem Clara-Schumann-Stück begonnen haben. Daraus erwuchs der Gedanke, dass wir eigentlich viel mehr solches Repertoire aufnehmen könnten – auch von anderen Komponistinnen. Für die Veröffentlichung eines spezifischen Komponistinnen-Programms kam uns dann ein weiterer thematischer Aufhänger sehr gelegen: In diesem Jahr 2021 wird in der Schweiz gefeiert, dass es hier seit 50 Jahren (!) das Frauenwahlrecht gibt.
Haben Ihre CD-Veröffentlichungen eine gesellschaftspolitische Komponente? Wir dachten einfach, das passt jetzt gerade, weil alle darüber reden. Im Januar haben wir uns auf die Aufnahmen gestürzt, als hier coronabedingt alles zu war. Es war toll, dass wir auf einmal ganz viel Zeit hatten, um uns auf dieses Projekt zu konzentrieren.
Wie ist die finale Auswahl mit den 24 Stücken auf der CD „Komponistinnen“ schließlich zusammen gekommen? Die große Auswahl stand eigentlich schon im Jahr 2019, wo wir rein intuitiv entschieden hatten, welche Stücke zu uns passen und welche nicht. Von Anfang an war es uns wichtig, dass wir ein Gleichgewicht der Sprachen deutsch, französisch und englisch abbilden. Ich habe viel herumtelefoniert, habe Tipps eingeholt und Noten aus Bibliotheken bestellt. Zum Glück kann man heute viel übers Internet machen. Mich interessiert dieses Sammeln und Forschen immens. Es wächst ein Hintergrundwissen über historische und musikalische Zusammenhänge und ich bin immer wieder glücklich über jede Neuentdeckung.
Viele aktuelle CD-Produktionen erwecken den Eindruck, dass es corona-bedingt mehr Zeit und Muße gab, um etwas in Ruhe und mit Tiefe zu entwickeln. Hat das auch für Sie eine Rolle gespielt? Der Normalzustand bei uns ist, dass rund um den Aufnahmetermin noch viele weitere Projekte den Terminkalender füllen. Anfang des Jahres hatten wir endlich mal nur eine einzige Sache, in der wir drin waren und in die wir sämtliche Zeit investieren konnten.
Was fasziniert Sie an der Liedkunst, wie sie auf den beiden aktuellen CDs in so vielen Facetten erlebbar ist? Mich interessiert nicht zuletzt, dass Text und Musik zusammenkommen und dass da eine höhere, verdichtete Ebene entsteht. Mit so etwas schließlich eine Geschichte und Emotionen zu erzählen, ist für mich der spannendste Aspekt.
Allein die Texte der zugrunde liegenden Lieder auf Ihrer Komponistinnen-CD sind ja für sich schon tief berührend. Was leisten Gesang und Musik darüber hinaus? Es geht um die direkte, gefühlsmäßige Ansprache und eben, dass eine höhere Ebene entsteht. Da ist also nicht nur ein Text, der sagt, diese Blume sei schön. Es geht in der Musik darum, dass mehr dahinter steht.
Die Lieder der präsentierten Komponistinnen handeln oft von Menschen im emotionalen Ausnahmezustand. Sind Menschen in solchen Phasen stärker sensibilisiert für die Impressionen aus der Natur? Vielleicht. Manchmal würde ich gerne in der Zeit von Goethe gelebt haben. Alles war viel langsamer und die Menschen mussten noch mit der Kutsche fahren. Was macht uns als Mensch eigentlich aus? Gerade die Rückbesinnung auf diese Frage fasziniert mich. Wir haben doch eigentlich nicht mehr als unseren Körper und die Natur, wenn man mal alles künstliche Drumherum wegnimmt. Diese Wahrheit bleibt heute genauso bestehen, wie schon bei den Romantikern.
Es mag heute altmodisch anmuten, sich in ein Lied zu vertiefen. Aber es kann einem viel von dem, was ich beschrieben habe, zurückgeben. Dadurch kann sich wieder ein Weg eröffnen, um bewusster im heutigen Alltag zu leben. Allein der Gedanke, dass es noch mehr und was anderes als das hektische Stadtleben gibt, kann einen schon weiterbringen.
Was schätzen Sie an ihrem Klavierpartner Benjamin Mead am allermeisten? Manchmal hat man Partner, bei denen ist man nicht so sicher. Ich hatte in Zürich studiert und arbeitete dort jedes Semester mit einem anderen Pianisten oder einer andere Pianistin zusammen. Im Jahr 2014 habe ich Benjamin Mead kennen gelernt und seitdem sind wir ein festes Duo. Hier weiß ich: Ich kann singen und Benjamin ist dabei. Das ist für mich als Sängerin ein großer Luxus. Er hat ein unglaubliches Gefühl für Details und für den Moment. Was bei uns sehr gut funktioniert, ist, dass wir hervorragend aufeinander hören. Wir beide haben die gleiche Begeisterung für das Lied und wir werden beide nie müde, um die Essenz herauszuholen. Das ist es, was uns gegenseitig inspiriert. Ich bin vielleicht eher der Kopf, der das schräge Repertoire herausholt. Er lässt sich unglaublich für alles begeistern und sorgt dafür, dass die Musik zu einem Ganzen wird. Vielleicht bin ich mehr die aktive, expressive Komponente und er ist der ruhende Pol. Da ist auf jeden Fall ein sehr tiefes Vertrauen: Egal was ich mache, er ist dabei. Man kennt sich, man weiß, wie der andere tickt und was der andere braucht. So kommt man zu einem ganz anderen Ergebnis.
Wie leistet eine CD-Aufnahme im Unterschied zu einem Konzert? Eine CD ist wichtig, um etwas zu dokumentieren. Aber der echte Moment, der findet live statt. Es geht manchmal auch darum, einen Weg auf sich zu nehmen. Das hat Wagner ja auch schon beschrieben. Musik erleben ist mehr als nur konsumieren.
Was ist Ihr Anliegen, wenn Sie dem Lied ein eigenes Festival widmen? Die Liedkunst ist nach wie vor eine Art Mauerblümchen im Konzertleben. Es gibt nur eine Handvoll weiterer Festivals in Europa, die sich aufs Lied spezialisieren. Musik ist für mich ein Mittel, um Emotionen und Ideen zu transportieren. Eine solche Vermittlung ist der faszinierendste Aspekt meines Berufes. Ich engagiere mich zum Beispiel bei einem lokalen Projekt, in dem ich Musik in soziale Institutionen hineinbringe. Dabei geht es zum Beispiel darum, in Altenheimen aufzutreten.
Ihre Konzertprojekte sind ja auch recht unkonventionell. Das Konzertformat hat sich in den letzten 200 Jahren nicht wirklich geändert. Alles findet in einem sehr genormten Rahmen statt. Mein Anliegen ist es, dass das Format der Liedkunst wieder mehr Natürlichkeit zurückgewinnt. Viele, vor allem junge Menschen haben Berührungsängste nicht wegen der Musik, sondern wegen dem ganzen steifen Ritus drumherum. Ich sehe hier noch viele Potenziale, Dinge weiterzuentwickeln. Menschen sind nicht länger auf das Genormte, Traditionelle abonniert, wenn es darum geht, überhaupt das Bedürfnis nach Musik wieder zu erfüllen. Wenn es sein muss, wird dann eben in den Garten gegangen und alle sind überrascht über die tolle Erfahrung, in so einem überraschenden Rahmen Musik zu erleben. Darin liegt die Chance für neue Formate.
Letztlich kann man mit solchen Aufführungen den öffentlichen Raum reicher und menschlicher machen, allein schon, um den vielen akustischen Umweltverschmutzungen etwas entgegenzusetzen. Es wäre ein großer Wunsch von mir, wenn Musik wieder ein Teil von allem wird. Und eben nicht länger nur so eine spezielle Angelegenheit bleibt.
Wir sind letztes Jahr mit dem Klavier durch ein ganzes Tal gefahren und haben dort Konzerte gegeben. Ein Malergeschäft hat uns einen Transporter geliehen, dort haben wir das Klavier eingeladen und irgendwo aufgestellt, manchmal direkt neben den Kühen. Vor drei Jahren war dies noch total ungewöhnlich, jetzt macht das jeder, eben notgedrungen. Aber dies war mir schon vor der Corona-Zeit ein wichtiges Anliegen.
Und da sind wir wieder bei unserem Thema, nämlich, was die Musik in Krisenzeiten sehr viel den Menschen geben kann. Menschen brauchen auch das Soziale und das Konzert ist eine Form von sozialer Versammlung. Es gibt einen Grund, morgens aufzustehen, weil abends ein Konzert ist. Musik leistet einen unglaublichen Beitrag für die Menschlichkeit – egal, ob im Garten oder im Konzertsaal (Foto oben: Sebastian Magnami). Stefan Pieper
Franziska Heinzen & Benjamin Mead: Komponistinnen/ solo musica 2021
Franziska Heinzen & Benjamin Mead: Les Six/ solo musica 2021