Aufgespiesste Köpfe

 

Wir wissen nicht, was Lukasz Borowicz dazu bewogen hat, im Rahmen des 22. Beethoven-Festivals 2018 in Warschau Rimsky-Korsakows zwölfte Oper, Der unsterbliche Kaschtschej  aufzuführen. Egal. Der Einakter ist nicht eben weit verbreitet, Aufführungen eine absolute Rarität. Nach Bizets Djamileh, Moniuszkos Paria und Cherubinis Faniska nun also Der unsterbliche Kaschtschej (Dux 1485). Borowicz hat sich dazu eine rein russischsprachige Besetzung gegönnt und zusätzlich Larisa Gergieva als Vocal Coach geholt, Schwester des umtriebigen Valery Gergiev, dessen St. Petersburger Aufnahme von 1995 mit ausgezeichneter Besetzung bislang als die gültige Aufnahme der Herbstparabel galt, wie Rimsky-Korsakow den Einakter im Gegensatz zum Frühlingsmärchen Sneguroschka untertitelte; Andrej Tschistiakows Moskauer Einspielung von 1991 fristete daneben ein Schattendasein, fast vergessen auch Samuil Samossuds Ende der 1940er Jahren in Moskau entstandene Aufnahme mit dem wunderbaren Pavel Lisitsian.

Wie für mehrere seiner Opern stützte sich Nikolai Rimsky-Korsakow bei Der unsterbliche Kaschtschej auf russische Legenden und Märchen. Den Anstoß gab der Kritiker Petrowski. Das Libretto zu dem aus drei Bildern bestehenden Einakter schrieb Rimsky-Korsakow selbst. Die Uraufführung erfolgte Ende 1902 in Moskau; der zweite Teil des Abends gehörte übrigens Tschaikowskys Iolanta. Der unsterbliche Kaschtschej ist ein unsympathischer Alter, vom Stimmtyp dem Mime ähnlich, was Savva Khastaev mit bleckendem Charaktertenor sehr gelungen unterstreicht. Kaschtschej bleibt so lange unsterblich, bis sein Tochter Kaschtschejewna keine Gefühle und Liebe empfindet und keine Träne vergießt. Derzeit hält Kaschtschej die Zarewna in seinem finsteren Herbst-, Winterreichreich gefangen, zu deren Rettung sich Prinz Iwan aufmacht. In ihrem Zaubergarten braut die Kaschtschejewna einen Zaubertrank und schärft ihr Zauberschwert – wieder ein Bezug zu Siegfried, aber auch Parsifal. Iwan erliegt ihrem Zauber und schläft ein. Als sie ihn töten will, wird sie vom Sturm-Ritter zurückgehalten, der den Prinzen zur Zarewna führt. Nachdem die Zarewna den Kaschtschej mit einem tückischen Liedchen in den Schlaf gesungen hat, sind Zarewna und der Prinz endlich vereint und wollen aus Kaschtschejs finsterem Reich fliehen. Umsonst bietet die Kaschtschejewna den beiden die Freiheit, wenn der Prinz bei ihr bleibt. Die Liebenden lassen sich nicht trennen. Die unglücklich liebende Mezzosopranistin vergießt eine Träne und verwandelt sich in eine Trauerweide. Kaschtschej verflucht das Paar und stirbt. Der Sturmwind entlässt alle in die Freiheit und den Frühling.

Das ist hochpoetisch ausgedacht. Aber die Szenerie wirkt auch finster und bedrohlich („Pfähle mit aufgespießten Schädeln“, heißt es in der Beschreibung zum ersten Bild!), man denke nur an Strawinskys auf den gleichen Motiven basierenden Feuervogel von 1910. Und der oftmals tosende Wind, der als Knecht Sturm, Recke Sturmwind oder Ritter Sturm bezeichnet wird, sorgt für eine übernatürliche, unheimliche und beklemmende Atmosphäre, die durch chromatisch kühne Orchesterfarben und harmonische Effekte klanglich erweitert und geradezu filmhaft aufgeladen wird; der Schneesturm ist kein liebliches Flockentreiben, sondern Aufruhr finsterer Mächte. Orchestrale Moderne und Spielkultur bringen die Spieler des Poznań Philharmonic Orchestra gut zusammen, ohne über die überlegende Wucht des Mariinsky-Orchesters zu verfügen; der Poznań Chamber Choir hat kaum etwas zu tun.

Die Aufnahme wirkt dicht und plastisch, Borowicz (Foto oben/ Justyna Mielniczuk qudrat _Rias Kammerchor). inszeniert für 63 ½ Minuten packendes Musiktheater, dem wir dennoch auf der Bühne nicht so rasch begegnen werden. Eine Mischung aus Kundry und Dalila bietet die große Arie der Kaschtschejewna zu Beginn des zweiten Bildes, in der Irina Shishkova ihren expansiven, in der Höhe mit der hier nicht unangenehmen Schärfe mancher russischen Stimmen aufwartenden Mezzosopran leidenschaftlich ausbreitet. Mit lyrischer Noblesse, die auch einem Jeletzki gut anstünde, und reichlich Fadesse gibt Yaroslav Petryanik den sanftmütigen Prinzen Iwan. Antonia Vesenina singt die Zarewna mit quecksilbrigem Koloratursopran, Mikhai Kolelishvhili macht mit schwarzem Bass deutlich, dass der Sturm eigentlich die Hauptfigur ist (weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/)..   Rolf Fath