Der Sänger wandert selbst

 

Der Bariton Andrè Schuen ist mit seinen siebenunddreißig Jahren bereits sehr erprobt im Liedgesang. Er tut gut daran, sich nicht auf die Oper festzulegen, wenngleich er bei bisherigen Bühnenauftritten bleibenden Eindruck hinterließ. Er macht etwas her, kann sich bewegen. Er bringt die Natürlichkeit eines Burschen aus Tirol in sein Spiel. Eine Natürlichkeit, die sich auch in seiner Stimme findet. Nun hat er Die schöne Müllerin von Franz Schubert aufgenommen. Sie ist bei Deutsche Grammophon erschienen (483 9558). Am Flügel sitzt Daniel Heide. Der aus Weimar stammende Pianist gilt als gesuchter Bergleiter. Schon im ersten Lied setzt er aufregende Akzente indem er gemeinsam mit dem Sänger das Tempo – wie auch im weiteren Verlauf des Zyklus – aus dem Handlungsverlauf entwickelt und jedem einzelnen Wort des Textes von Wilhelm Müller seinen eigenen musikalischen Ausdruck verleiht. „Die Steine selbst, so schwer sie sind“ rumpeln auch in den Tiefen seines Instruments. Heide hat großen Anteil daran, dass ich dem Vortrag ergriffen gefolgt bin, von Lied zu Lied darauf gespannt, wie es wie es weitergeht. Völlig zu Recht verweist Autor Maximilian Sippenauer im Booklet darauf, dass das Klavier „keinen virtuosen Zierrat“ liefert, sondern !transparent, vergrößernd, fragil wie konvex geschliffenes Glas“ wirke. „Diese feinsinnige Konversation zwischen Klavier und Gesang ist der Schlüssel zu Schuberts Müllerin und erfordert tiefes Vertrauen der Interpreten zueinander.“

Schuen tritt seinen Weg entschlossen an. „Das Wandern ist des Müllers Lust“. Doch schon bald fällt auf, dass sich dieser Wanderer die Freude an der Bewegung in freier Natur mehr einredet denn wirklich Freude daran zu haben. Er ist wie auf der Flucht, trägt schwer an seinen Gefühlen. Diese Schwermut – heutzutage würde man von Depression reden – wird sein ständiger Begleiter. Was ihm begegnet, was seine Aufmerksamkeit erregt, bezieht er letztlich immer auf sich. Der Bach, der alsbald zu rauschen beginnt, zieht ihn hinab. Er wird den Tod darin suchen, und keiner wird um ihn weinen und trauern. Die Liebe, die er sich von der Begegnung mit der schönen Müllerin erhofft, erweist sich als Trugbild. Sie findet nur als Projektion in seinem Kopf statt, während die junge Frau dem feschen Jäger schöne Augen macht. Sie nimmt ihn nicht einmal richtig wahr.

Je weiter der Zyklus voranschreitet, verhaucht der Vortrag immer mehr, was auf einen sehr kontrollierten Umgang des Interpreten mit seiner Stimme schließen lässt. Andrè Schuen macht sich das Schicksal des Wanderburschen mit Anteilnahme und Empathie zu eigen. Er kann sich gut in ihn hineinversetzen. Seine Darbietung wird dadurch packend und glaubhaft. Er will nicht nur der Erzähler der Geschichte sein, er durchlebt sie selbst und macht damit von einer legitimen Möglichkeit der Liedinterpretation Gebrauch. Das gelingt umso besser, wenn jedes Wort zu verstehen ist wie bei Schuen. Wortdeutlichkeit ist eine seiner Stärken. Wollte er nur daran arbeiten, mit dem Buchstaben W besser umzugehen. Mal haucht er ihn an, um in das betreffende Wort zu finden, an dessen Beginn er steht, mal ist das nicht nötig. Ohne diesen kleinen Schönheitsfehler würde mein Urteil über seine Aufnahme der Schönen Müllerin noch positiver ausfallen. Rüdiger Winter