Umberto Giordanos Verismo-Drama Andrea Chénier zählt an der Mailänder Scala nicht zum gängigen Repertoire – die Chronik nach dem 2. Weltkrieg verzeichnet bis heute erst drei Produktionen. Legendär ist die von 1955 mit Maria Callas und Mario Del Monaco unter Antonio Votto, 1982 folgte eine Neuinszenierung mit Anna Tomowa-Sintow und José Carreras unter Riccardo Chailly. Ihren großen Vorgängerinnen folgt nun Anna Netrebko als Maddalena, welche zwei Jahre vor der Adriana Lecouvreur 2019 an der Met ihre erste Verismo-Partie markiert. Cmajor hat die Aufführung an der Scala vom 7. Dezember 2017, also die Inaugurazione della stagione, bei der traditionell zu Beginn die Nationalhymne ertönt, auf DVD veröffentlicht (757308). Nach 1982 steht Riccardo Chailly erneut am Pult des Orchesters des Teatro alla Scala und bestätigt seine reichen Erfahrungen mit diesem Werk. Den fiebrigen Atem der Musik, ihren dramatischen Puls erfasst er in jedem Moment und bietet eine fesselnde Interpretation. Das durchgängig straffe Tempo erlaubt auch keinen Zwischenapplaus, erst am Ende kann das Premierenpublikum ausgiebig seine Begeisterung zum Ausdruck bringen.
Die lebendige Inszenierung des Theater- und Filmregisseurs Mario Martone, welche beim Fest im Schloss auch mit stehenden Bildern arbeitet, profitiert von Margherita Pallis Bühne. Sie ist eine Ikone unter den italienischen Ausstatterinnen. Für das erste Bild montierte sie kostbar verzierte barocke Bilderrahmen zu einer Wand, durch die das profane Leben der Außenwelt sichtbar wird. Lüster und Statuen ergänzen die luxuriöse Atmosphäre. Im 2. Akt baute sie auf die Drehbühne eine imposante Brücken-Architektur. Der 3. Akt zeigt Gérards Krankenlager vor einem Zerrspiegel. Effektvoll werden im letzten Bild Kerkerzellen und die Guillotine mit dem Henker ausgestellt. Ursula Patzaks prächtige historische Kostüme fügen sich perfekt in den opulenten Rahmen. Das Ballett der Scala (Choreografie: Daniela Schiavone)) steuert höfische Tänze bei.
Die Tessitura der Auftrittsszene und des ersten Duetts mit Chénier liegt Netrebko nicht ideal, die Stimme klingt kehlig und nasal. Erst in der Auseinandersetzung mit Gérard im 3. Akt findet sie zu ihrer Form und formt „La mamma morta“ zu einem eindringlichen Psychogramm. Auch das im 1. Bild affektierte Spiel weicht hier glaubhaftem dramatischem Ausdruck. Alle Reserven sammelt sie für das passionierte Schlussduett, was dann auch seine überwältigende Wirkung nicht verfehlt.
Yusif Eyvazov, in letzter Zeit häufig an der Seite seiner Gattin anzutreffen, führt sich mit Chéniers „Un dì all’azzurro spazio“ verhalten ein. Dem spröde aufgerauten Tenor mangelt es an Glanz, doch erfährt die Arie im Ausdruck eine starke Steigerung. Bei seinem Solo und im Duett mit Maddalena im 2. Akt gewinnt die Stimme an Rundung.„Sì, fui soldato“ im 3. Akt überzeugt durch die Emphase des Vortrags und bei „Come un bel dì di maggio“ sowie im Schlussduett findet er sogar zu strahlenden Spitzentönen.
Luca Salsi, momentan Italiens Bariton Nr. 1, was angesichts der vielen illustren Vorgänger verwundert, beginnt als Gérard recht grobschlächtig und dröhnend. Differenzierter und mit mehr Zwischentönen singt er im 3. Akt. Wenn er Maddalena begehrt, lässt er brutale Ausbrüche in Scarpia-Nähe hören.
Eine bäuerlich derbe Contessa di Coigny ist Mariana Pentcheva, Annalisa Stroppa eine rassige Bersi, Judit Kutasi eine eindrucksvolle Madelon mit üppigem Mezzo. Der Coro del Teatro alla Scala (Bruno Casoni) hat vor allem in der Eingangsszene im Schloss und beim Tribunal Gelegenheit für delikaten wie leidenschaftlichen Gesang. Bernd Hoppe