Giacomo Meyerbeer (1791-1864) zählt neben Berlioz, Liszt und Wagner zu den innovativsten und erfolgreichsten Komponisten des 19. Jahrhunderts und gilt als Meister der Grand Opera. Der in der Nähe von Berlin erstgeborene Sohn eines weltoffenen, aufgeklärten und toleranten Elternhauses erhält wie alle seine drei Brüder eine fundierte künstlerisch-wissenschaftliche Ausbildung – Ausdruck einer mehr und mehr erstarkenden jüdischen Bildungsschicht, die sich zusehends in die bürgerliche Mitte integriert, ohne dabei das Entreebillet zur europäischen Kultur mittels eines Taufscheins (wie Heinrich Heine) zu bemüßigen. Meyerbeer bleibt zeitlebens ein zutiefst gläubiger, aber nicht orthodoxer Jude und erträgt die religiösen Ressentiments mit Stolz, Würde und Geduld. 1836 setzt er mit Les Huguenots dem religiös-ideologischen christlichen Fanatismus ein nachhaltiges Zeichen – aktuell bis in unsere Zeitrechung hinein. In Berlin wird er von Lauska, Zelter und B. A. Weber unterrichtet. Den letzten Schliff erhält er in Darmstadt in der musikalischen Schule des legendären Abbe Vogler. Entmutigt durch den (schwachen Erfolg seiner deutschen Opern Jephtas Gelübde (1812) und Alimelik (1814), erwägt er vorrübergehend eine Karriere als Pianist.
Meyerbeer zählt zu den profiliertesten Klaviervirtuosen seiner Epoche. Auf Anraten Salieris durchstreift er Italien, sammelt Volksweisen, studiert die italienische Melodie, wird von Rossinis Tancredi überwältigt, reüssiert mit italienischen Opern und begibt sich in das musikalische Fahrwasser eines Mayr, Mercadante und Rossini. Mit eigenen Akzenten setzt er auf den Trend der Zeit und gibt dabei der Musik eine fortschrittliche Bewegung. Den Reigen seiner insgesamt sechs italienischen Opern eröffnet die 1817 in Padua aufgeführte Romilda e Costanza; der fulminate Erfolg der letzten Oper II Crociato in Egitto, von Meyerbeer 1824 in Venedig selbst in Szene gesetzt, gibt seinem Namen im internationalen Operngeschehen ein nicht mehr weg zu denkendes Gewicht und ebnet ihm den Weg nach Paris, der Kulturhauptstadt des 19. Jahrhunderts. 1831 katapultiert ihn Robert le Diable an die Spitze der europäischen Oper und über alle Grenzen hinaus. 1836 folgen die bereits erwähnten Les Huguenots, 1849 Le Prophete und posthum 1865 L’Africaine/ Vasco da Gama. Für die Opera comique entstehen L’Etoile du Nord (1854) und Dinorah ou Le Pardon de Ploermel (1859). In seiner Eigenschaft als preußischer Generalmusikdirektor ist Meyerbeer ab 1842 für die repräsentativen Opernaufführungen und die gesamte Hofmusik verantwortlich.
Was sich bei Meyerbeer in seinen Opern als musikalisch kosmopolitischer Stil, als eine Verschmelzung italienischer, deutscher und französischer Einflüsse bezeichnen lässt, spiegelt sich auch als Abbild in der kleinen Form des Liedes wider. Etwa 83 Lieder, Romanzen und Melodies komponiert Meyerbeer zwischen 1810 und 1863.
In Frankreich dominiert zu Beginn des 19. Jahrhunderts die sentimentale, leidenschaftliche wie dramatische Romanze. Die meisten waren einfach in Strophenform konzipiert, schlichte Kadenzharmonik, selten Ausweichungen oder Modulationen. Das Klavier wurde zur bloßen Begleitung degradiert, genügte kaum einem pianistischen Anspruch, traf aber den Geschmack und die Möglichkeiten der aufblühenden Haus- und Salonmusik – verkümmerte Massenware.
Meyerbeers Liedschaffen entspricht seinem Bestreben, sich quasi zwischen den Opern im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu halten. Einen Kontrapunkt setzt er bewusst gegen die oberflächliche Salonmusik und die seichten Moderomanzen. Dabei hat er in Hector Berlioz einen – auch rhetorisch – sehr eloquenten wie versierten Unterstützer an seiner Seite. Beide suchen und experimentieren mit neuen Klangqualitäten, die sich am Treffensten mit Musique characteristique bezeichnen lassen. Der überaus große Erfolg seiner Romanzen und Lieder überraschte selbst Meyerbeer – er schien ins Wespennest der Zeit gestochen zu haben. Im Journal des debats, wo alle Kulturströmungen kontrovers und mit großer Leidenschaft diskutiert werden, feiert Berlioz besonders Meyerbeers Le Moine. Über die 1834 komponierte biblische Romanze Rachel à Nephtali und Le Moine hat uns Meyerbeer ein ganz rares Dokument zu seinen ästhetischen Ansichten in einem Brief an den Liederkomponisten Wilhelm Speyer vom 28. Januar 1835 hinterlassen: »Erlauben Sie mir in beifolgender Rolle ein kleines musikalisches Neujahrsandenken beizufügen. Es ist so unbedeutend, wie Neujahrsandenken gewöhnlich sind, und soll auch nur meinen Namen ein wenig bei Ihnen auffrischen. Es sind zwei Romanzen, welche ich kürzlich in Paris componirt habe, und die einige Sensation dort gemacht haben, welches um so mehr zu verwundern ist, da sie in direkter feindseeliger Tendenz gegen die bis jetzt beliebten schmachtenden und duftenden Mode- Romanzen des Salons auftreten, da sie eine dramatische Grundidee und Localcouleur, natürlich in dem verjüngten Maaßstabe der kleinen Form auszusprechen suchen. Die Tendenz des zwischen Versuchung und Reue ringenden Mönch’s, spricht sich wie ich hoffe deutlich genug aus [um] keines <…> ästhetischen Commentars zu bedürfen. Nicht so vielleicht aber die biblische Romanze Rachel à Nephtali, wo die Farben vom Dichter so zart aufgetragen sind, daß auch ich nur andeuten durfte. Die Scham der jungen Jüdin, ihrem Schwager zu gestehen, daß sie seine verbothene Liebe theilt, hält die <…> Gluth ihrer Leidenschaft zurück, die nur immer bei dem letzten Verse jedes Couplets („Pitiez, je suis ta soeur“) durchbricht. Ich habe daher dieses comprimirte Gefühl durch die sich stets behauptende kleine Baß-Figur auszudrücken gesucht, und beim letzten Verse des jedesmaaligen Couplets wo die Gluth durchbricht, geht diese Baß-Figur in die Singstimme über. Leid thut es mir diese Romanze nicht 4/4 statts 2/4 geschrieben zu haben, da die Bewegung langsamer sein muß, als sie sich so geschrieben für’s Auge ausnimmt.«1
Die Texte seiner Lieder stammten von seinem Bruder Michael, Journalisten, Rechtsanwälten, Ministern, Librettisten und Dichtern. Von Heine stammen drei Textvorlagen, von Goethe eine. Wer von Meyerbeer vertont wurde, war sich einer ganz besonderen Auszeichnung bewusst, empfand sich musikalisch nobilitiert. In den Liedern offenbart sich eine pittoreske Vielfalt, grenzüberschreitend zwischen Keckheit, Sentimentalität und religiöser Meditation. Meyerbeer kostet dabei den Stimmenumfang der Sängerinnen und Sänger facettenreich und ausdrucksvoll aus, bis in kleinste Nuancen und Schattierungen hinein – von ganz banalen musikalischen Floskeln, über eine Tarantella oder einem Galopp bis hin zu locker-flockigen Walzerrhythmen; bisweilen sind es Opernszenen en minature, ein explizit hoher stimmtechnischer Standard, und der Komponist verlangt vom Auszuführenden Gestik wie Mimik. Wesentlichen Anteil am Stimmungsgehalt hat die Klavierbegleitung, nicht nur als Stütze des Sängers prägt sie das rhythmische Profil und bestimmt das szenische Timbre. Im Gegensatz zum Kunstlied deutscher Prägung verzichtet Meyerbeer auf Tonmalerei – die mitunter virtuose Klavierstimme ist bei ihm Stimmungsmalerei.
1850 – also auf der Höhe seines Ruhmes – veröffentlicht Meyerbeer eine persönlich getroffene Auswahl seiner Lieder, wobei es dem Kosmopoliten wichtig erscheint, dass die Lieder alle mehrsprachig erscheinen. Die Lieder der Aufnahmen mit Andrea Chudak und Andreas Schulz am Klavier (1-CD-BM 1439008) sind chronologisch geordnet, wobei die beiden geistlichen Lieder Gottergebenheit und Reue erstmals auf Tonträger erklingen.
Die darauffolgende Doppel-CD von 2019 (2-CD-Bella Musica Antes BM 319294) vereinigt 38 Liedkompositionen von Giacomo Meyerbeer und ist damit die bislang umfangreichste Sammlung von Aufnahmen dieser Art. Die Sopranistin Andrea Chudak setzt sich seit Jahren unermüdlich für die Wiederentdeckung des großen jüdisch-deutschen Komponisten ein. Intensiv recherchierte sie anhand unterschiedlicher musikwissenschaftlicher Quellen – wie den Meyerbeer-Tagebüchern oder Listen „verschollener Werke“ – und so gelang es ihr, die Autographen und Erstdrucke von 14 bislang als verschollen geltenden Vokalkompositionen aufzufinden. Sie konnte dabei auch auf wertvolle Mitarbeit eines Netzwerks von Meyerbeer-Forschern zurückgreifen; Fundorte gab es in verschiedenen Ländern, darunter Deutschland, England und Israel. Unter den neu aufgefundenen Werken befinden sich wahre Schätze und Kuriositäten wie Meyerbeers A-Cappella-Einlage der Vroni und des Toni zum Schauspiel Der Goldbauer von der Bühnenautorin Charlotte Birch-Pfeiffer (1800-1868). Eine Sensation sind auch zwei Lieder auf Texte des dichtenden bayerischen Königs Ludwig I. (1786-1868), dessen Bayerischen Schützenmarsch Meyerbeer 1829 als Kantate für Männerstimmen und Blechblasinstrumente vertonte. Wer auch immer von Meyerbeer vertont wurde, durfte sich mehr als nur geschmeichelt gefühlt haben: Es war eine Nobilitierung der besonderen Art und Weise.
Giacomo Meyerbeer (1791-1864) komponierte mehr als 100 Romanzen, Elegien, Lieder und Balladen. Sie erschienen in Einzeldrucken, Anthologien und Sammelausgaben, als musikalische Beigaben in Zeitschriften, Journalen und in Büchern. In den eleganten Salons der Rothschilds, eines Bankiers Fould, der legendären Madame Merlin oder der Princesse Belgiojoso wurden viele dieser Lieder von den Stars der Opera inmitten einer illustren Gesellschaft vorgetragen, wo auch berühmte Kulturschaffende wie Heinrich Heine, Gioachino Rossini, George Sand, Daniel-Francois-Esprit Auber, Frederic Chopin, Luigi Cherubini, Franz Liszt oder ein Alexandre Dumas verkehrten.
Etliche dieser Lieder hat Meyerbeer für bestimmte Sängerinnen und Sänger komponiert; so widmete er Le Moine dem Bassisten Nicolas-Prosper Levasseur, der 1831 die Partie des Bertram in Meyerbeers Robert le diable sang. Sogar Franz Liszt ließ es sich nicht nehmen, eine groß angelegte Paraphrase für das Klavier über Le Moine zu komponieren. 1850 veröffentlichte Meyerbeer in 40 Melodies eine Auswahl seiner Lieder in französischer, deutscher und italienischer Sprache – ein ungewöhnliches Zeugnis polyglotten Weltbürgertums im 19. Jahrhundert. Die Lieder Meyerbeers, die einen Kontrapunkt zu den seichten und sentimentalen Salonromanzen bildeten, erfuhren in Frankreich eine überwiegend positive Rezension und wurden besonders von Berlioz im Journal des debats begeistert besprochen. Doch es kam nicht von ungefähr, dass ihm deutsche Kritiker wie Ludwig Rellstab seinen Kosmopolitismus und seine Internationalität vorwarfen. Weil Meyerbeer keine explizit deutsche Musiksprache pflegte, wurde er als „Abtrünniger“ wahrgenommen, was sicher auch mit aufkeimenden nationalistischen Tendenzen und dem Antisemitismus in Zusammenhang steht.
Bis heute hat sich Deutschland nicht wirklich mit Meyerbeer versöhnt. Es gehörte zu seinem universalen Verständnis, dass er sich weder in seinen Opern noch in seinen melodies auf einen Stil festlegen ließ: Seine musikalischen Inspirationen und Eingebungen nährten sich aus der italienischen Kantilene, einer grundsoliden deutschen Harmonik mit Akkordrückungen, unvermittelten Tonartenwechseln, chromatischen Einwürfen, einer ausgefeilten Rhythmik und natürlich der französischen Deklamation. Ausgehend von der Ganzheit einer Textvorlage war es für Meyerbeer selbstverständlich, die französischen, italienischen und deutschen Gedichte durch ein jeweils national-musikalisches Idiom zu charakterisieren. Jeder Vertonung schenkte er dabei eine eigene Individualität und experimentierte mit neuartigen Formen und Motiven. Darüber hinaus verlangte er Mimik, Gestik und eine leidenschaftliche Hingabe der Ausführenden. Von der neckischen Liebelei bis hin zu Dramen à la miniature, von geistlichen Texten bis hin zur sentimentalen Romanze – niemals verleugnete Meyerbeer dabei sein dramatisches Talent. Immerhin wurden die Lieder in den mondänen Salons aufgeführt und boten den ausführenden Interpreten reichlich Gelegenheit, ihre stimmlichen und darstellerischen Qualitäten unter Beweis zu stellen. Der Klavierpart ist dabei sehr anspruchsvoll, mitunter sehr virtuos. Im Gegensatz zum deutschen Lied im Sinne Schuberts und Schumanns ging es Meyerbeer primär nicht um Tonmalerei, sondern um Stimmungsmalerei. Ihm war die Reflexion des Sujets wichtig, und er lotete die innere Stimmung der Lyrik bis ins Detail aus.
Wie schon auf einer ersten CD-Ausgabe Andrea Chudaks Giacomo Meyerbeer – Lieder (Bella Musica Antes BM319294) wiederum in der Unterstützung durch Julian Rohder, Tobias Tagge und Alexandra Rossmann am Klavier sind die Lieder auch hier chronologisch geordnet, so dass Meyerbeers musikalische Entwicklung quasi hörbar wird. Welch eine Pluralität der Formen und des musikalischen Ausdrucks! Kein Lied gleicht dem anderen. Die Lieder erklingen in den Originalsprachen und mit den von Meyerbeer vorgesehenen Stimmen von Sopran, Tenor und Bass. Unterschiedlichste Textdichter sind vertreten: Die Canzonetten auf Texte Pietro Metastasios (1698-1782) entstanden während der Lehrzeit Meyerbeers bei Georg Joseph Vogler in Darmstadt und versprühen mozartsche Anmut. Mozart, Gluck und Spontini gehörten zu den musikalischen Idealen und Vorbildern Giacomo Meyerbeers. Marceline Desbordes-Valmore (1786-1859) war eine der bedeutendsten französischen Lyrikerinnen des 19. Jahrhunderts; Emilien Pacini (1811-1898) war Librettist und verfasste u. a. die französische Fassung von Carl Maria von Webers Freischütz und Verdis II trovatore; Charles- Hubert Millevoye (1782-1816) schrieb klassizistischromantische Dichtungen; Meyerbeer vertonte mehrere Gedichte seines Bruders Von Heinrich Heine (1797-1856) setzte Meyerbeer drei Gedichte in Töne; der Dichter und Dramatiker Henri Blaze de Bury (1813-1888) zählte zum näheren Bekanntenkreis Meyerbeers; neben einigen Liedtexten, die von Meyerbeer vertont wurden, verfasste er das Schauspiel La jeunesse de Goethe, zu dem Meyerbeer die Schauspielmusik komponierte (unveröffentlicht), 1865 publizierte Henri Blaze de Bury eine recht authentische Biographie über Meyerbeer (Meyerbeer et ses temps). Wilhelm Müller (1794-1827) dichtete auch Schuberts Die schöne Müllerin und Die Winterreise, Wolfgang Robert Griepenkerl (1810-1868) gehörte zu den Mitarbeitern der Neuen Zeitschrift für Musik, die Verfasser der Cavatine Ach dies Herz, des Aimez, der Canzonetta II nascere e il fiorire d’una rosa, der Arietta Soave instante und des melancholischen Cantique du trappiste sind unbekannt. Johann Gabriel Seidl (1804-1875) war Archäologe, Lyriker und Dramatiker; Amadée-Edmond Thierry (1797-1873) wirkte als Bittschriftenberichterstatter im französischen Staatsrat und gehörte der Akademie der Künste an. Walter Scott (1771-1832) war Dichter, Schriftsteller und Literaturkritiker, und viele seiner Werke waren Grundlagen für Opernlibretti (unter anderem La donna del lago für Rossini und Lucia di Lammermoor für Donizetti). Der Komponist, Kritiker und Übersetzer Jean Maurice Bourges (1812-1881) gehörte zu den Mitarbeitern der Revue et Gazette musicale und übersetzte auch einige Lieder Meyerbeers. Crevel de Charlemagne (1807-1882) war Schriftsteller und wurde besonders mit seiner Biographie über den Komponisten Benedetto Marcello (1686-1739) bekannt.
Für Aylic Langles (1827-1870) Schauspiel Murillo ou la Corde de pendu komponierte Meyerbeer eine Ballade als musikalische Einlage. Ignaz Franz Castelli (1781-1862) gehörte zum engeren Freundeskreis Meyerbeers, er war Dichter und Dramatiker und verfasste u. a. das Libretto zu dem seinerzeit sehr populären Singspiel Die Schweizer Familie von Joseph Weigl. Pietro Beltrame (1817- 1849) war Politiker, Schriftsteller und Librettist von Opernlibretti (u. a. La fidanzata di Lammermoor von Alberto Mazzucato (1813-1877) und publizierte 1847 eine viel beachtete Biographie über Vincenzo Bellini. Joseph Mery (1798-1866), ein Dichter und Satiriker, schrieb die schaurig-schöne Ballade Le revenant du vieux chäteau de Bade, die von Meyerbeer als ein melodramatisches Kabinettstück vertont wurde. Die Romanze der Erminia aus Das Hoffest von Ferrara (1843) nach einem Text von Ernst Raupach (1784-1852) ist interessant, da die Komposition mit Meyerbeers biblischer Romanze Rachel á Nephtali identisch ist, nur mit einem anderen Text. Neben Le Moine zählte Rachel à Nephtali zu den Bravourstücken der Salons. Nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen Liedern forderte Meyerbeer seinen Interpreten die gesamte Palette ihres Könnens ab, bei ihm steht der Mensch mit allen seinen Leidenschaften und Affekten im Fokus seines Interesses, nicht nur das Leben erschien ihm wie ein fortwährendes Drama. Thomas Kliche
Andrea Chudak studierte an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin. Ein weiterführendes Studium absolvierte sie am Institut Musiktheater der Staatlichen Hochschule für Musik Karlsruhe. Dem Liedgesang widmete sie sich in den Klassen von Eric Schneider und Wolfram Rieger. Sie besuchte zahlreiche Meisterkurse, u.a. bei Peter Schreier und Elisabeth Schwarzkopf. Andrea Chudak erhielt mehrfach Preise bei nationalen und internationalen Wettbewerben, u.a. beim Int. Emmy-Destinn-Gesangswettbewerb in Budweis. Seit dem Jahre 2001 ist sie an den Opernhäusern in Karlsruhe, Kaiserslautern, Stuttgart, der Staatsoper Berlin und dem Theater an der Wien als Solistin tätig. Konzertverpflichtungen im In- und Ausland ließen sie mit vielen Orchestern und namhaften Dirigenten zusammenarbeiten. Festivalerfahrungen sammelte die Sopranistin u.a. 1998 beim Festival der Europäischen Musik im Meistersaal Berlin, 2000 beim Festival „Les Notes en Bulles“ Auray (Frankreich), bei der „Klangwerkstatt 2004 – dem Festival für Neue Musik Berlin“, beim Festival „Lied: Strahl 2007″ in Kempten, beim „Festival Schloss Britz“ in Berlin sowie beim Kleistfestival des Maxim-Gorki-Theaters 2011 in Berlin. Die CDs „Zwiegespräche“ (BM-CD319181), „Im Grase lieg ich“ (BM- CD 319254), „Max Doehlemann – Jacobs Traum“ (BM-CD319267) und „Carl Maria von Weber – Lieder“ (BM319280) dokumentieren ihr künstlerisches Schaffen.
Dazu auch die Rezension von Michele Ferrari aus dem Jahr 2020: MEYERBEER IM SALON: Komponisten des 19. Jahrhunderts, die den Erfolg anstrebten, mussten sich doppelt beweisen. In erster Linie hatten sie natürlich das Theaterpublikum für sich zu gewinnen, dessen kapriziöser Geschmack die Tonsetzer unter einen ständigen, kaum auszuhaltenden Druck setzte. Dann aber galt es, die Salons zu erobern. Dafür schrieben die Herren Compositeurs Lieder und Romanzen, mit denen nicht nur die Sehnsüchte von stets gelangweilten und den Kick suchenden Bourgeois bedient wurden, sondern mit denen dank passender Widmungen vor allem Netzwerke aktiviert wurden, die für die Karriere lebenswichtig waren. Es waren Gelegenheitskompositionen, und die Gelegenheit bestand oft darin, die Unterstützung spendabler Gönner zu gewinnen. Giacomo Meyerbeer entzog sich diesem Zwang nicht, auch wenn er im Gegensatz zu seinen italienischen Konkurrenten einen Nachteil hatte: er war kein Schnellschreiber. Er schrieb trotzdem um die 100 Stück, wovon ungefähr die Hälfte auf den vorliegenden zwei CDs sowie einer schon 2014 erscheinen CD beim selben Label (Giacomo Meyerbeer, Lieder: A. Chudak, A. Schulz, Klavier, ANTES BM 319294) versammelt sind. Sie stammen aus allen Schaffungsepochen: man findet neben Canzonette italiane des 19jährigen auch deutsche Lieder (zwei hier zum ersten Male eingespielte auf Texte Ludwigs I. von Bayern) sowie Romances und eine 15minütige Ballade auf Französisch (die aber bis zum einem kurzen gesungenen Finale aus reiner Rezitation mit Klavier-Einsprengseln besteht) aus dem letzten Lebensabschnitt. Eine Besonderheit stellt „Komm!“ (CD 1, tr. 16) dar, dessen deutsch und französisch gesungener Text von Heinrich Heine und dem Bonner Johann Baptist Rousseau (1802-1867) stammt (ein erfolgloser Schreiberling, der sich Meyerbeers finanzielle Unterstützung erbat). Wenige Sänger haben sich dieser Petitessen angenommen. In Erinnerung ist etwa ein Rossini-Meyerbeer-Recital von Thomas Hampson aus dem Jahre 1992. Mehrere der hier vorgestellten Kompositionen wurden von der Sopranistin Andrea Chudak wieder entdeckt, was dieser Veröffentlichung einen sicheren Repertoire-Wert sichert. Und dadurch, dass Meyerbeer auf sehr unterschiedliche Vorlagen zurückgriff, entsteht beim Hören nicht die Langeweile, die man nicht selten bei Liederplatten empfindet. Andrea Chudak hinterlässt hier einen günstigeren Eindruck als auf ihrer Meyerbeer-Platte bei NAXOS, die in der OperaLounge schon besprochen wurde. Ihr matter, an Stellen unsteter Sopran wird jedoch nicht jedermanns Sache sein. Mit dabei sind Julian Rohde, der über einen leichten, bisweilen in der Höhe allzu eng klingenden Tenor verfügt, und Tobias Hagge mit fahlem Bass-Bariton. Sie werden sehr gekonnt von Alexandra Rossmann am Klavier begleitet, dem die Aufnahmetechnik an Stellen leider einen dumpfen Ton verliehen hat. Alle vokalen Interpreten eint die gute Aussprache und der Wille, diesen Miniaturen – die man freilich sofort nach dem ersten Hören vergisst – Gehör zu verschaffen. Insgesamt lässt aber diese Produktion die etwas parfümierte Unterhaltung in Salons des vorvorigen Jahrhunderts erfolgreich aufleben (Giacomo Meyerbeer, Romanzen, Lieder, Balladen: Andrea Chudak (Sopran), Julian Rohde (Tenor), Tobias Hagge (Bass-Bariton), Alexandra Rossmann (Klavier), 2 CDs ANTES BM 149008.). Michele C. Ferrari
Dank an Thomas Kliche, dem renommierten Meyerbeer-Forscher und Initiator mancher Aufführungen seiner Lieder und Werke im Ausser-Opern-Bereich für die Überlassung der Texte, die wir den beiden Veröffentlichungen wie auch die Künstlerfotos der Ausübenden bei Bella Musica entnahmen. Von Thomas Kliche erschien im Backe-Verlag Hützel: „Camacho und das ängstliche Genie – Innenansichten der Familien Mendelssohn und Meyerbeer“, ISBN-10: 3981487370 ISBN-13: 978-3-9814873-7-4; 1 Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher. Band 2, hg. von Heinz und Gudrun Becker. Berlin 1970, S. 432f.