Allzu viele bedeutende Komponisten, die auch als namhafte Maler hervorgetreten sind, dürfte es wohl nicht geben, so dass dem Litauer Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875-1911) schon unter diesem Aspekt Beachtung zukommen sollte. Tatsächlich ist er ohne Frage der wichtigste litauische Tonschöpfer der Spätromantik. Seine Berührung mit der Musik war bereits familiär angelegt, war sein Vater doch Organist. Über seine Mutter hatte er deutsche Wurzeln, auch wenn die Familie, in der er als ältestes von nicht weniger als neun Kindern aufwuchs, polnischsprachig war. Um das Ganze noch zu verkomplizieren, lag seine Heimatstadt Varėna im seinerzeitigen Zarenreich – einen eigenständigen polnischen Staat gab es zu Lebzeiten Čiurlionis‘ bekanntlich mitnichten.
Uns soll hier der Komponist interessieren. Neben den hier im Mittelpunkt stehenden Orchesterwerken hinterließ Čiurlionis Vokalmusik (darunter die Kantate De profundis und gar Skizzen zu einer unvollendet gebliebenen Oper Jūratė), Kammermusik, Klaviermusik und Orgelmusik. Zwei Tondichtungen, Miške (Im Walde) und Jūra (Das Meer), sowie die sinfonische Ouvertüre Kęstutis bilden den Kern seines Œuvre. Nicht wirklich viel, und doch hat gerade Das Meer für eine sinfonische Dichtung gewaltige Ausmaße, erstreckt sich über eine halbe Stunde und und inkludiert gar eine Orgel. Es handelt sich um das populärste Musikwerk aus Čiurlionis‘ Feder und auch um den Höhepunkt der litauischen Sinfonik an sich. Immerhin vier Einspielungen lagen bis dato vor. Das bewährte finnische Label Ondine bringt nun eine CD heraus, welche erstmals diese drei Orchesterwerke komplett vereint (ODE 1344-2). Die Idiomatik war offenkundig ein Anliegen, weswegen man auf das Litauische Nationale Sinfonieorchester unter seinem Chefdirigenten Modestas Pitrėnas zurückgriff. Eben dieses Orchester hat die beiden sinfonischen Dichtungen bereits zweimal eingespielt, so 1995 unter Gintaras Rinkevičius (Vilnius Recording Studio) sowie 2000 unter Juozas Domarkas (Northern Flowers). Beide Aufnahmen sind indes nicht unbedingt leicht greifbar. Dies gilt auch für die 1993 entstandene, nicht-litauische Einspielung des Meers mit dem Staatlichen Sinfonieorchester der Russischen Föderation unter Jewgeni Swetlanow (Exton). Der bereits genannte Domarkas machte 1990 mit dem Slowakischen Philharmonischen Orchester zudem eine Einspielung der beiden Tondichtungen für Marco Polo.
Die Ouvertüre Kęstutis erfährt bei Ondine hingegen ihre Weltersteinspielung. Sie entstand im Jahre 1902, liegt damit zeitlich zwischen Im Walde (1900/01) und Das Meer (1903-1907). Ein direkter Vergleich der Spielzeiten liefert zutage, dass Pitrėnas relativ breite Tempi anschlägt. Im Walde dauert bei ihm 17:15 und ist damit zwei Minuten langsamer als in Domarkas‘ älterer Einspielung und hat immer noch eine Minute mehr Spielzeit als in dessen neuerer Einspielung. Einzig Rinkevičius genehmigt sich mit 18:22 noch mehr Zeit. Dies gilt auch beim Meer, wo dieser auf 37 Minuten kommt. Pitrėnas mit seinen 32:24 folgt vor Swetlanow (29:18) und Domarkas (27:12 bzw. 27:22). Freilich besagen die reinen Spielzeiten, zumal bei Werken solcher Dimensionen, nicht allzu viel. Klanglich fällt interessanterweise keine der hier verglichenen Aufnahmen ab; selbst die alte Marco-Polo-Produktion schneidet erstaunlich gut ab. Es handelt sich, abgesehen von dem gleichwohl hervorragend klingenden Live-Mitschnitt unter Swetlanow, um Studioaufnahmen. Die Ondine-Produktion entstand zwischen 15. und 19. April sowie zwischen 15. und 17. Oktober 2019 im Aufnahmestudio des Litauischen Nationalen Kulturzentrums in Vilnius. Die Neueinspielungen sind mit ihrem zelebrierten Zeitmaßen nahe an denjenigen von Rinkevičius. Das litauische Orchester hat diese Werke freilich im Blute, weswegen es auch in dieser Hinsicht im Grunde keine Einschränkungen zu machen gilt. Wer Das Meer allerdings mit den kräftigen, hochexpressiven Orchesterfarben der alten russischen Orchestertradition hören will, kommt um Swetlanow nicht herum (die CD vereint zudem die gleichnamigen Werke von Glasunow und Debussy). Swetlanows Darbietung bleibt dann auch die Referenz: nirgendwo sonst ist der Seegang rauer und schlagen die Wellen höher.
Čiurlionis hat einen ganz eigenen Stil entwickelt, den man mit Fug und Recht litauisch nennen kann. Großangelegte Landschaftsbeschreibungen sind fraglos eine Stärke dieses Komponisten, so dass gerade die beiden Tondichtungen einen gewichtigen Beitrag zu diesem Genre beisteuern, auch wenn man hie und da einige Längen ausmachen kann (die Swetlanow interessanterweise vergessen macht). Die nicht ganz so ambitionierte Ouvertüre bereichert die immer noch überschaubare Čiurlionis-Diskographie auf erfreuliche Weise, so dass diese Neuproduktion schon deswegen als Pflichtkauf auch für den fortgeschrittenen Bewunderer dieses Komponisten bezeichnet werden darf. Das brauchbare Booklet liegt leider nur auf Englisch vor. Daniel Hauser
Dazu auch eine Biografie bei Wikipedia: Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (* 10.jul./ 22. September 1875, in Varėna; † 28. Märzjul./ 10. April 1911greg. in Pustelnik (Marki) bei Warschau) war ein litauischer Komponist und Maler.
Leben: Die Sprache der gebildeten Litauer seiner Zeit war Polnisch, wie in diesem Manuskript Gedanken (Myśl). Mikalojus Konstantinas Čiurlionis mit seiner Frau Sofija Kymantaitė-Čiurlionienė (1886–1958) im Jahr 1908. Durch sie kam er näher mit der litauischen Sprache in Berührung.
Mikalojus Konstantinas Čiurlionis war das älteste von neun Kindern einer polnisch sprechenden Familie. Seine Mutter Adelė hatte deutsche Vorfahren und sein Vater Konstantinas war Organist. Dementsprechend früh kam er mit Musik in Berührung. Er erhielt von 1889 bis 1893 Unterricht in der Orchesterschule des polnischen Fürsten Michał Ogiński in Plungė. Die Unterstützung des Fürsten ermöglichte ihm ab 1894 ein Musikstudium an der Musikakademie Warschau in den Fächern Klavier und Komposition. Zu seinen Lehrern zählte Zygmunt Noskowski. 1899 erhielt er sein Diplom. Statt danach eine feste Anstellung anzunehmen, entschloss sich Čiurlionis, 1901/02 am Leipziger Konservatorium bei Carl Reinecke und Salomon Jadassohn seine musikalische Ausbildung zu perfektionieren. Ab 1902 begann er sich für die Malerei zu interessieren und nahm in Warschau ersten Malunterricht. Er begriff sich selbst als Synästhetiker. Zusätzlich beschäftigte er sich immer stärker mit philosophischen Fragestellungen. György Dalos schreibt: „Der in der UdSSR äußerst populäre Nationalkünstler […] hatte als Komponist und Maler die Synthese dieser beiden Kunstarten angestrebt.“[1]. Von 1904 bis 1906 war er Schüler der Warschauer Schule der Schönen Künste. Danach war Čiurlionis sowohl kompositorisch als auch malerisch sehr aktiv: er gab Konzerte und wirkte an zahlreichen Kunstausstellungen mit. 1907/08 wohnte er in Vilnius. Danach ließ er sich in Sankt Petersburg nieder. Gegen Ende seines Lebens litt er unter psychischen Problemen. Er wurde in verschiedenen Kliniken behandelt, starb jedoch bereits im Alter von 35 Jahren an einer Lungenentzündung. Postum wurde ihm gerade in Litauen größte Anerkennung zuteil. Sowohl seine Musik als auch seine Gemälde erlebten große Resonanz. 1987 wurde eine Čiurlionis-Gesellschaft ins Leben gerufen. Vytautas Landsbergis gilt als größter Kenner seines Schaffens. Heute besitzt Čiurlionis den Status eines Nationalhelden. Die Mikalojaus Konstantino Čiurlionio gatvė in Vilnius und der Asteroid (2420) Čiurlionis sind nach ihm benannt.
Čiurlionis als Komponist: Čiurlionis‘ Schaffen hat seine Wurzeln in der Spätromantik. Üppige Harmonik und schwärmerische Klangbilder kennzeichnen schon seine ersten Werke. Auch die Volksmusik seines Landes hatte für ihn eine große Bedeutung; er sammelte zahlreiche Lieder und harmonisierte sie. Doch Čiurlionis war ein sehr innovativer Geist und begann, erstaunliche kompositorische Experimente zu unternehmen. Sehr beachtlich ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung von Kompositionstechniken, die auf Reihen beruhen. Hier antizipierte er die Schönbergsche Zwölftontechnik, ohne freilich mit der Tonalität zu brechen. Dennoch zeigen seine Werke eine ungewöhnlich freie Harmonik. Auch hinsichtlich der Rhythmik erwies sich Čiurlionis sehr eigenständig. Er entwickelte sehr komplexe rhythmische Strukturen und wandte Polyrhythmik und sogar Polymetrik an. Manche seiner späteren Werke zeichnen sich durch stark ausgeprägte polyphone Strukturen aus, was einen Hang zum Neoklassizismus mit sich führt. Den Schwerpunkt seines kompositorischen Schaffens bildete die Klaviermusik. Interessant ist der Einfluss der Malerei auf seine Musik: viele Werke sind ganz deutlich malerisch angelegt und versuchen, Landschaften musikalisch darzustellen. Auch weisen seine Kompositionen eine bemerkenswerte klangliche Farbigkeit auf. Čiurlionis war der erste litauische Komponist von Format. Seine Werke, die von Vytautas Landsbergis katalogisiert wurden, besitzen allerdings auch internationale Bedeutung.
Čiurlionis als Maler: Als Maler bevorzugte Čiurlionis Landschaften, stand aber auch dem Symbolismus nahe. Seine Bilder haben oft philosophische Hintergründe. Auffällig ist wiederum der Einfluss der Musik auf die Malerei: so schuf Čiurlionis mehrere Zyklen von Gemälden, die er als „Sonaten“ bezeichnete und deren einzelne Bilder er mit „Allegro“, „Andante“ u. ä. überschrieb. Hierbei orientieren sich die einzelnen Bilder am Charakter der jeweiligen musikalischen Vortragsanweisung: ein Andante zum Beispiel vermittelt also eine eher ruhige Atmosphäre. Manche Gemälde tragen sogar den Titel „Fuge“. Diese Synthese von Musik und Malerei ist kunsthistorisch einmalig. Čiurlionis schuf etwa 280 Bilder, darunter 200 Gemälde und 80 Grafiken. Quelle: Wikipedia
(Weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Weitere Informationen zum Künstler (Komponist und Maler) bei https://visit.kaunas.lt/en/kaunastic/20-things-you-should-know-about-ciurlionis/ und natürlich auf der website www.ciurlionis.eu