Das Londoner Label Hyperion ist mit seiner Edition der Lieder von Franz Liszt bei Vol. 6 angelangt (CDA68235). Bestritten wird diese CD von Julia Kleiter. Am Flügel begleitet sie Julius Drake, der gefordert ist, weil bei diesem Komponisten der Klaviersatz nicht selten betont anspruchsvoll und üppig ausfällt. Schließlich war Liszt als Pianist eine Legende. Auf seinem Spiel beruhte seine enorme Berühmtheit. Drake begleitet auch die übrigen Sänger der Edition. Kontinuität ist garantiert. Er wurde 1959 in London geboren und steht als Liedbegleiter in der Tradition seines Landsmanns Gerald Moore. Heinrich Heines Loreley – um ein Beispiel anzuführen – wird in den Tasten verschwenderisch umrankt. Ganz automatisch gerät dadurch der Mann am Klavier wie bei vielen anderen Titeln auch auf eine völlig gleichberechtigte Position, ist also nicht nur der dienende Begleiter, der sich im Hintergrund hält. Er wird selbst zum Solist. Die Sängerin setzt ein wenig atemlos ein als ob ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schießt, auf den sie so nicht gefasst war. Das ist ein interessanter Ansatz, der in der Vertonung angelegt ist und jegliche Ähnlichkeit mit der etwas früher entstandenen volksliedhaften Version von Friedrich Silcher leugnet. Liszt hat ein versöhnlich ausklingendes dramatisches Kunstlied geschaffen, das in der ersten Fassung von Julia Kleiter bewegend gesungen wird. Überaus melodiös heben drei Lieder aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell an – Der Fischerknabe, Der Hirt und Der Alpenjäger. Für alle drei fand Liszt, der in Weimar, wo Schiller zuletzt lebte und starb, nachhaltige Spuren hinterließ, charakteristische Motive. Nicht gespart an Erfindungsreichtum hat der Komponist auch bei Die Macht der Musik auf einen Text von Prinzessin Helene zu Mecklenburg-Schwerin. Mit gut zehn Minuten Länge wird die Form arg strapaziert. Die Interpretin lässt sich davon nicht beeindrucken und findet zu einem in sich geschlossenen Vortrag. Zu hören sind unter anderen noch vier Kompositionen nach Versen von Victor Hugo, Mignons Lied nach Goethe und Wo weilt er? nach Rellstab.
Im Werk von Liszt stellen Lieder einen festen Posten. Mehr als achtzig Titel sind überliefert. Einige davon wurden mehrfach umgearbeitet. Die Transkriptionen der Lieder von fremder Hand – darunter Schubert, Beethoven und Schumann – gehören zu seinem Meisterwerken. In der Mehrzahl vertonte Liszt deutsche Gedichte. Goethe, Schiller, Heine, Uhland und Rückert waren seine bevorzugten Dichter. Enge biografische Bindungen an Frankreich, Ungarn und Italien brachten es mit sich, dass er auch Texte aus diesen Kulturkreisen vertonte. Liszt kann getrost als eine europäische Erscheinung gelten, was ihm im Lichte unserer Zeit so modern macht. In Reclams 1300 Seiten umfassenden Liedführer (Axel Bauni, Werner Oehlmann, Lilian Sprau und Klaus Hinrich Stahmer), einem mehrfach aufgelegten und erweiterten Standardwerk des Genres, heißt es: „Das Geheimnis der Lisztschen Lieder ist ihre Subtilität.“ Wem der Sinn für die Höhe des Gefühls fehle, auf der sie sich bewegten, der werde ihnen hilflos gegenüberstehen – doch „wer sich bemüht, sich in ihre Sphäre hineinzufühlen, dem bedeuten sie einen hohen, fast erotischen Bereich romantischer Idealität“.
Eröffnet wurde die Edition mit Volume 1 von Matthew Polenzani (CDA67782). Als Tamino, Ottavio, Almaviva, Werther, Nadir oder Jóse ist der der US-amerikanische Tenor international unterwegs. Sein gutes Deutsch dürfte auch auf das intensive Studium von Opernrollen in dieser Sprache zurückzuführen sein. Also hat er sich die Lieder gewiss nicht phonetisch eingeprägt. Polenzani sucht seinen Interpretationsansatz zunächst im Wort. Er will Geschichten, Gedanken, Gefühle und Stimmungen vermitteln. Davon quellen die Lieder dieses Komponisten förmlich über. Interpreten, die sich dessen nicht bewusst sind, stehen auf verlorenem Posten. Die erste Zeile des ersten Liedes ist wie ein Programm für das ambitionierten Unterfangen von Hyperion: „Kling leise, mein Lied, durch die schweigende Nacht, kling leise, dass nicht die Geliebte erwacht.“ Dichter ist der österreichische Reiseschriftsteller und Journalist Johannes Nordmann, der mit bürgerlichem Namen Johann Rumpelmayer hieß. Dass er sich als Poet ein Pseudonym zulegte, ist nachvollziehbar. Zu hören ist die erste Version aus dem Revolutionsjahr 1848. Von den politischen Erschütterungen ist nichts zu spüren. Im Gegenteil. Das Lied wirkt wie eine Verweigerung. In erster Fassung sind nun auch die Lieder aus Schillers Wilhelm Tell zu hören, von denen Julia Kleiter die zweite geboten hatte. Liszt verehrte Schiller und hatte zu dessen 100. Geburtstag 1859, der in Weimar feierlich begangen wurde, einen Künstlerfestzug für großes Orchester komponiert. Mit Im Rhein, im schönen Strome aus dem Lyrischen Intermezzo von Heinrich Heines Buch der Lieder klingt die CD schwelgerisch aus. In Anlehnung an dieses populäre Sammlung, bei der sich auch andere Komponisten großzügig bedienten, wollte Liszt ursprünglich auch seine Lieder verteilt auf mehrere Hefte herausgeben. Von diesem Plan rückte er aber wieder ab, weil nicht alle frühen Werke des Genres später seinem eigenen Werturteil standhielten. Von daher leiten sich auch die vielen Bearbeitungen ab. Schon jetzt wird deutlich, dass Hyperion alle Versionen einspielt. Das ist höchst verdienstvoll und der Sinn einer solchen Edition. Gewährt wird so ein tiefer Einblick in die Werkstatt des Komponisten, der auf der Suche nach dem besten Ausdruck gewesen ist, ursprüngliche Erfindungen infrage stellte und durch neue Lösungen ersetzte. Derart verteilt über die Edition bleiben die Bearbeitungsschritte unübersichtlich. Es wäre wünschenswert, würde sich Hyperion am Ende zu einer zeitlich geordneten Gesamtausgabe entschließen können wie seinerzeit bei der großen Sammlung der Lieder von Franz Schubert.
In Volume 2, bestritten von Angelika Kirchschlager, gibt es wieder eine direkte Verknüpfung mit der vorhergehenden CD, indem das Rhein-Lied von Heine nun in der zweiten Fassung dargeboten wird (CDA67934). Allein eine Frauenstimme genügt, um es weniger pathetisch wirken zu lassen. Freudvoll und leidvoll, das Lied Clärchens aus Goethes Egmont, das nach Angaben im Booklet erstmals in der zweiten Version eingespielt wurde, klingt stimmlich reif und dringt bei dem Sprichwort gewordenen Ausruf „Himmelhoch jauchzend zum Tode betrübt“ gar in dramatische Sphären vor. Die Ballade Es war ein König in Thule (zweite Verson) nimmt opernhafte Züge an. Und noch einmal Goethe. Der hatte zwei kurze Verse gedichtet, die bei der gemeinsamen Veröffentlichung 1815 auf einer Buchseite unter die Überschrift Wandrers Nachtlied gestellt worden waren. Auf der CD sind beide Vertonungen als Der du von dem Himmel bist und Über allen Gipfeln ist Ruh‘ jeweils in der dritten Fassung enthalten. Liszt lässt beider Beginn stimmungsvoll im Klavier anklingen, so dass die Sängerin empfindsam reagieren kann. Schließlich punktet Angelika Kirchschlager mit eines der berühmtesten Werke des Komponisten: Es muss ein Wunderbarstes sein. Dieses Lied ist von Liszt nicht variiert worden.
Der kanadische Bassbariton Gerald Finley wurde für Volume 3 gewonnen (CDA67956), was sich als glückliche Wahl erweist. Finley ist erprobt im deutschen Fach, hat den Hans Sachs in Wagners Meistersingern von Nürnberg und den Amfortas im Parsifal gesungen. Bei ihm ist jedes Wort zu verstehen. Heines Melancholie verbindet er in den Liedern Morgens steh‘ ich auf und frage, Ein Fichtenbaum steht einsam und Anfangs wollt‘ ich fast verzagen aufs Feinste mit der musikalischen Linie. Neben der literarischen Vorlage und der Musik versteht er die Interpretation als völlig gleichberechtigten Bestandteil der Wirkung eines Liedes. Der dritte Titel wird sogar in einer vierten Version vorgetragen. Ohne Goethe geht es auch auf dieser CD nicht. Wer nie sein Brot mit Tränen aß ist das Lied des Harfenspielers aus dem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Finley trägt es wie eine Strafpredigt vor und spart nicht mit Selbstmitleid. Nicht als Textdichter sondern als Erscheinung geht Goethe in dem Lied Weimars Toten um, das der Österreicher Franz von Schober, der mit Franz Schubert befreundet war, gedichtet hat. Darin heißt es bedeutungsschwer: „Große Tote, kommt heraus! Wieland, Herder, Schiller, Gothe! Gießt die neue Morgenröte über die Lebenden aus!“ Dafür werden mehr als acht Minuten gebraucht. Liszt lässt im Klavier gewaltig die Glocken läuten. Finley nimmt das Pathos ernst und versieht die Nennung von Goethe mit besonderem Schmelz in der Stimme. Nur so ist das Stück auch heute noch gut erträglich. Unheimliche Spannung erfährt die Ballade Der Vätergruft, die Liszt auf einen Text von Ludwig Uhland schuf, durch Finleys Vortrag. Mit dem Bolero Gastibelza und La tombe et la rose (Victor Hugo) und Le vieux vagabond (Pierre Béranger) wechselt das CD-Programm ins Französische, um mit Go not, happy day von Alfred Tennyson englisch auszuklingen.
Sasha Cooke, die aus Kalifornien stammende Mezzosopranistin, hat in Volume 4 ein betont schwermütiges Programm übertragen bekommen (CDA68117). Ihre dunkel timbrierte Stimme ist dafür wie geschaffen. „Ich weine, ach, muss weinen“ heißt es in den Lied Verlassen von einem gewissen 1842 geborenen Gustav Michell, von dem nicht einmal das Sterbejahr überliefert zu sein scheint. Die Zeile wirkt wie das Motto ihrer Darbietungen. In dem Lied Sei Still seufzt Henriette von Schorn aus tiefster Seele und die Sängerin mit ihr: „Ach, wie ist Leben doch so schwer.“ Sie unterhielt in Weimar einen literarischen Salon, in dem auch Liszt und Peter Cornelius verkehrten, dichtete und sammelte Märchen. In der teilnahmsvollen musikalischen Umsetzung werden ihre schlichten Verse zur Kunst erhöht, woran die Interpretin vernehmlichen Anteil hat. Wenigsten ein leichter hoffnungsvoller Schimmer spricht aus dem Lied Wieder möcht‘ ich dir begegnen, dessen Text von Cornelius stammt, der zum künstlerischen Freundeskreis von Liszt gehörte. In Erinnerung geblieben ist er vor allem mit seiner Oper Der Barbier von Bagdad, für die er sich das Libretto selbst schrieb. Sein literarisches Werk ist vergleichsweise umfänglich wie auch das eigene Liedschaffen, dem neuerdings wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Im Stillen wirkte Cornelius auch hinter den Kulissen, indem er Vokalwerke von Hector Berlioz ins Deutsche übertrug. Beide Lieder genügten Liszt offenkundig wie sie sind. Es gibt keine weiteren Bearbeitungen. Jeweils in zweiten Fassungen sind die Die Loreley, Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Blume und Duft sowie Die tote Nachtigall einbezogen worden.
Bleibt Volume 5. Zu hören ist diesmal der britische Tenor Allan Clayton, der auch dem deutschen Publikum bekannt ist (CDA68179). In München war er im vergangenen Jahr als David in den Meistersingern von Nürnberg zu hören. Im Repertoire hat er den von Liszt geförderte Hector Berlioz. Für 2021 in Peter Grimes von Britten in Madrid angekündigt. Es scheint, als dringen die Opernerfahrungen in seinem Liedvortrag mehr durch als nötig. Clayton schlägt gleich zu Beginn seiner CD dramatische Töne an. Für Freudvoll und leidvoll – hier in der Erstveröffentlichung der ersten sowie anschließend gleich noch in der zweiten Version – ist dies gewöhnungsbedürftig und zu appellativ. Der Überschwang des Liedes Jugendglück gelingt überzeugender, was auch für O lieb, so lange du lieben kannst in zweiter Fassung zutrifft. Die Höhe ist allerding erkämpft und wird durch die Kraftanstrengung nicht gefälliger. Der Jugendglück-Text stammt von Richard Pohl. Von Liszt fasziniert, hatte er sich in dessen Umfeld in Weimar niedergelassen, wo er sich auch als Komponist und Musikschriftsteller betätigte. Seine Gedichte sind auch von Robert Schumann vertont worden. Bei Du bist wie eine Blume nach Heine in der zweiten Version gelingt Clayton ein lyrischer Höhenflug.
An Bemühungen, die Lieder von Liszt einem breiten Publikum bekannt zu machen, hat es nicht gefehlt. Hyperion geht nun am weitesten. Erfreulich ist, dass auf neuen Liedersammlungen regelmäßig der Name des Komponisten auftaucht. Zu nennen sind CDs mit Samuel Hasselhorn, Malte Müller, Kay Stiefermann. Der französische Tenor Cyrille Dubois, der sowohl auf Opernbühnen als auch in Konzertsälen aktiv ist, legte bei Aparte eine CD mit Liszt-Liedern vor. Begleitet wird er von seinem Landsmann Tristan Raes. Als sensible Interpretin der Lieder erwies sich Diana Damrau auf ihrer von Helmut Deutsch begleiteten CD bei Erato, die seit ihrem Erscheinen 2011 nichts von ihrer Frische eingebüßt hat. Eine höchst ambitionierte Produktion legte die ungarischen Hungaroton vor. Dabei sind sechs Lieder in unterschiedlichen Versionen eingespielt wurden, darunter das aufgeregte Freudvoll und leidvoll.
Nicht selten wirken die historischen Aufnahmen wie gut gemeinte Pflichtübungen, die am Ende doch auch Langweile verbreiten können. Michael Raucheisen nahm im Rahmen seiner berühmten Liededition für den Reichsrundfunk mindestens achtzehn Titel auf. Beteiligt waren Erna Berger, Tiana Lemnitz, Lea Piltti, Emmi Leisner, Gertrude Pitzinger, Karl Erb, Hanns-Heinz Nissen, Rudolf Bockelmann und Hans Hotter. Elisabeth Schwarzkopf hatte Liszt noch in ihrer späten Zeit im Repertoire. Einen Liederabend 1973 in London eröffnete Hanne-Lore Kuhse aus der DDR gleich mit sechs Liedern dieses Komponisten. Der umtriebige Dietrich Fischer-Dieskau dürfte mit seiner Edition der Deutschen Grammophon, die etwa die Hälfte des Liedschaffens umfasst, der Platzhirsch auf dem Musikmarkt sein. Rüdiger Winter
Das große Bild oben ist ein Ausschnitt aus einem Gemälde von Henri Lehmann. Es zeigt den Komponisten Franz Liszt im Jahr 1839. Der Maler stammte aus Kiel und ließ sich später in Paris nieder, wo er in Künstlerkreisen ein begehrter Porträtist war. Foto: Wikipedia