Der Auftritt der Amme in einer Barockoper wird stets mit Spannung erwartet – ist dieser doch zumeist von kurioser Anmutung, Denn die Rolle wird entweder von einem Counter- oder einem Charakter-Tenor gesungen, also en travestie besetzt. In Monteverdis L’incoronazione di Poppea gibt es sogar einen Ammen-Wettstreit, denn sowohl die Titelheldin als auch Ottavia, verstoßene Gattin des Kaisers Nerone, werden von solch einer dienstfertigen Nutrice umsorgt. Unter dem Titel Il Canto della Nutrice (Nurse Tenor Arias) hat der italienische Tenor Marco Angioloni im Oktober 2019 bei DA VINCI CLASSICS eine CD mit einem originellen Programm aufgenommen, welches Ammen-Szenen von sechs verschiedenen Komponisten versammelt (C00240). Darunter finden sich nicht eweniger als 13 Weltpremieren. Die Idee zu diesem Projekt kam dem Sänger nach der Interpretation einer Ammen-Rolle in Richard Löwenhertz bei den Telemann-Festspielen 2018 in Magdeburg.
Am meisten vertreten ist Francesco Cavalli (1602 – 76), der nicht weniger als 114 Ammen-Partien komponierte. Im Programm erklingen Ausschnitte aus acht seiner Opern. Den Beginn markiert die Sinfonia aus Muzio Scevola, in der das begleitende Ensemble Il Groviglio mit musikantischem Schwung sowie dynamisch differenziertem Einsatz aufwarten und seinen hohen Anteil am Gelingen der CD unterstreichen kann. Das betrifft gleichermaßen die Sinfonie aus Pietro Antonio Cestis Il Tito und Alessandro Melanis Il Girello. Erster Vokalbeitrag ist die Arie „A scherzi lasciuetti“ aus Doriclea. Schon hier entzückt der exaltierte Ton des Sängers, der einer Amme bestens ansteht und die Bizarrerie einer solchen Figur plastisch umreißen kann. Die weiteren Cavalli-Beiträge stammen aus Eritrea, Erismena, Orimonte, Calisto, Egisto und Eliogabalo. In ihnen wartet der Interpret neben affektiertem Gehabe und fiebrig-hitziger Tongebung auch mit bemerkenswert lyrischer Substanz auf.
Von Antonio Sartorio, der von 1630 bis 1680 lebte, gibt es eine Arie aus Orfeo, „Non ho core per mirar“, in der die Nutrice mit nachdrücklich-autoritärem Duktus aufwartet. Zum Abschluss der Anthologie erklingen zwei Szenen aus Domenico Scarlattis L’Ottavia restituita al trono – die Arie „Le fravolette di questa bocca“, in welcher der Sänger zwischen jammerndem und hektischem Tonfall wechselt, sowie das lebhafte Duett „Arrogantaccio, va via“, in dem sich die Sopranistin Francesca Martini mit aufgeregtem Tonfall zum Tenor gesellt. Bernd Hoppe