Auf dem Meer der Lust

 

Melodramen III. Mit der schon auf dem Cover in Großbuchstaben präzise benannten Neuerscheinung bei Thorofon wird aus einer losen Folge eine ambitionierte, ja einzigartige Edition. Bislang waren zwei Alben mit je drei CDs herausgekommen. Den Auftakt bildete „Auf dem Meer der Lust in hellen Flammen …“ (CTH2633/3). Die Fortsetzung „Flügel musst du jetzt mir geben!“ (CTH26453) ließ mit dem ehr diskreten Vermerk Melodramen II auf der Rückseite eine Weiterführung erwarten. Die gibt es nun (CTH26594). Diesmal wurden gar vier CDs gefüllt. Es hätten wohl auch zehn und mehr sein können. Die einschlägige Literatur scheint unerschöpflich zu sein. Spiritus Rector des Unternehmens ist Peter P. Pachl. Er deklamiert auch bei den gut fünfzig einzelnen Titeln selbst und wird am Klavier von Rainer Maria Klaas begleitet, der auch mit eigenen Melodramen vorgestellt wird, die veranschaulichen, wie robust sich die Form bis in die Gegenwart hinein behauptet. Pachl, der sich als Regisseur, Intendant, Hochschullehrer und Musikschriftsteller einen Namen gemacht hat, fügt seinem vielseitigen und umtriebigen Wirken mit diesen Produktionen eine weitere Facette hinzu. Geboren in Bayreuth, spricht er mit hohem Wiedererkennungswert. Seine fränkische Herkunft schlägt noch immer durch. Die Klarheit des Vortrages kommt den Werken in ihrer Mischung aus Wort und Musik zugute.

Mit der Sammlung macht Pachl Lust darauf, sich mit dieser etwas in Vergessenheit geratenen kleinen Form, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert hatte, erneut zu beschäftigen. Im Booklet beruft er sich oft auf Max Steinitzer (1864-1936), der ein Jugendfreund von Richard Strauss war, selbst komponierte und musikalische Bücher und Schriften verfasste, darunter eine Betrachtung zur Entwicklungsgeschichte des Melodrams, die um 1910 in Leipzig erschien. Mit der geballten Edition wird das Melodram als in sich geschlossene und eigenständige musikdramatische Gattung neu entdeckt. Und zur Diskussion gestellt. Abermals sind die meisten Werke nie zuvor auf Tonträgern erschienen. Nicht einmal deren Existenz lässt sich auf Anhieb nachweisen. In Büchern nicht und nicht im allwissenden Netz. Pachl dürfte über Jahre intensiv geforscht haben. Das ist ein Wert für sich.

Ein Name lässt gleich an zweiter Stelle der Trackliste aufhorchen: Bedrich Smetana (1824-1884). Der Komponist der Verkauften Braut, in deren Originalpartitur auch ein deutscher Text eingetragen ist, den Nikolaus Harnoncourt 2011 als Grundlage einer viel gerühmten Aufführung in Graz verwendete, versah die Ballade „Der Fischer“ von Goethe mit einem romantisch dahin fließenden Klaviersatz. In der Version des aus Böhmen stammenden Camillo Horn (1860-1941) ist die Ballade in der Auftaktbox der Edition zu hören. Zudenke Fibich (1850-1900), der wie Smetana auf dem Vysehrader Friedhof in Prag begraben liegt, verarbeitete „Der Blumen Rache“ von Ferdinand Freiligrath, die auch Pfitzner und Loewe als Lieder vertont hatte, zum Melodram. Von dieser Dichtung fühlte sich auch Julis Metz inspiriert, dessen Lebensspuren und -daten sich verloren haben. Pachl kommt im Booklet zu dem Schluss, dass seine „lautmalerisch strukturierte Version“ im Vergleich mit Fibich „erfüllt von einem stark gesanglich tendierten Duktus“ ist. Ein Unikat der besonderen Art stellt „Helges Treue“ nach einem Text von Moritz Graf Strachwitz dar. Als Komponisten sind Franz Liszt (1811-1886) und Felix Draeseke (1835-1913) genannt. Liszt, der mit der vor Blasphemie warnenden „Lenore“ von Gottfried August Bürger selbst ein bedeutendes Melodram hinterließ, hatte seinem fünfundzwanzig Jahre jüngeren Schützling geholfen, das erstes Opus in die richtige Form zu bringen und gilt deshalb als Koautor. Mit „Der Mönch von Bonifazio“ ist aber auch ein eigenständiges Opus von Draeseke berücksichtigt worden, das auf einer Dichtung von Conrad Ferdinand Meyer fußt. Gleich mit vier Nummern ist Wilhelm Kienzl (1857-1941) der vornehmlich durch seine Oper Der Evangelimann in Erinnerung blieb, überproportional vertreten. Seine flott eingeleitete „Brautfahrt“ nach Eichendorff und der an eine Enzianblüte gerichtete theatralische Monolog mit dem Titel „Von einer Genziane“ sind Glanzpunkte der neuen Box. Zusätzlich erklingen zwei Klavierstücke von Kienzl, mit denen der Pianist Klaas – wie auch bei der Fuga für Klavier von Siegfried Wagner – vom Begleiter zum Solist wird. Es dürfte Pachl, ein Bedürfnis gewesen sein, den Sohn Richard Wagners, der kein eigenes Melodram hinterlassen hat, musikalisch im Umkreis des Genres zu platzieren. Schließlich gilt er als Siegfried-Wagner-Experte, brachte etliche seiner Opern auf die Bühne und legte eine große Biographie vor.

Obwohl Robert Heger (1886-1978) in diversen Nachschlagewerken nicht nur als Dirigent berühmter Operneinspielungen genannt wird, sondern auch als Komponist, ist sein Nachlass in Vergessenheit geraten. Mit „Die Jüdin von Worms“ nach Wilhelm Brandes, der ein bedeutender Wilhelm-Raabe-Forscher war, wird ein Werk mit einer kraftvollen Einleitung und dramatischen Zwischenspielen aus der Versenkung geholt, das mehr als zwanzig Minuten in Anspruch nimmt. Länger dauert mit gut vierundzwanzig Minuten nur „Das klagende Lied“ von Gustav Lewin (1869-1938), das in der zweiten Editionsfolge alternativ von Josef Pembaur d.J. (1875-1950) zu finden ist, der fünf Minuten weniger braucht. Lewin stimmt musikalisch sehr empfindsam in die Geschichte von den beiden Königskindern ein. In der literarischen Vorlage von Martin Greif klingen Motive an, die Gustav Mahler für seine gleichnamigen Kantate in Märchen Bechsteins und der Brüder Grimm fand. Mit Lewin wird eines Komponisten gedacht, den die Nationalsozialisten in den Tod trieben. Obwohl er bereits in den 1920er Jahren vom jüdischen zum christlichen Glauben übergetreten war, sah er sich am Konservatorium in Weimar, wo er als Lehrer wirkte, heftigen antisemitischen Angriffen ausgesetzt, die ihn schließlich veranlassten, die Nahrungsaufnahme zu verweigern. Gedemütigt und entehrt starb er 1938.

Eleonore Prohaska (1785-1813) kämpfte als Mann verkleidet in den Befreiungskriegen und starb an den Folgen einer schweren Verwundung. Beethoven komponierte zu dem verschollenen Schauspiel „Leonore Prohaska“ des Preußischen Geheimsekretärs Friedrich Duncker die Musik. Daraus wurde das Melodram für die Edition gewählt.

Als Beitrag zum Beethoven-Jahr 2010 kann eine Szene aus Dunckers Schauspiel „Leonore Prohaska“ gewertet werden. In einige seiner Werke – Fidelio und in die Schauspielmusiken zu Egmont und König Stephan – hat der vor 250 Jahren geborene Komponist Melodramen eingebaut. Die 1785 in Potsdam geborene Unteroffizierstochter hatte sich ein männliche Identität zugelegt und 1813 unter dem Namen August Renz Zugang zum Lüzowschen Freikorps verschafft. Noch im selben Jahr wurde sie so schwer verwundet, dass sie wenig später starb. Das Drama ist verschwollen. Überliefert sind lediglich die von Beethoven vertonten drei Szenen sowie ein Trauermarsch, erstmals eingespielt von Claudio Abbado für die Deutsche Grammophon und inzwischen auch auf CD gelangt. Als Melodram, begleitet von einer Glasharfe, ist die Abschiedsszene der Leonore angelegt, bei Abbado von der Schauspielerin Karoline Eichhorn vorgetragen. Pachl spricht dieselben Versen, die mit den Worten „Du, dem sie gewunden“ beginnen. Sie werden im Booklet als CD-Erstveröffentlichung ausgebeben, was irritiert. Der schon erwähnte Steinitzer nennt das Melodram „eine kleine Szene zu Leopold Dunckers Drama“. Kannte er den Zusammenhang nicht? Wie auch immer. Auf jeden Fall dürfte es das erste Mal sein, dass Leonores Abgesang von einem Mann eingespielt wurde. Steinitzers eigenes Melodram „Die Braut von Corinth“ findet sich in Folge zwei. Damit ist die Reihe der Namen nicht erschöpft. „Das Mädchen vom Glück“ geht auf Heinrich Neal (1870-1940) zurück, der Kapellmeister in Heidelberg war. Als Hofkapellmeister in Gera wirkte der aus dem thüringischen Rudolstadt stammende Carl Kleemann (1842-1923), der das Melodram „Das begrabene Lied“ hinterließ. Der 1901 geborene und erst 1992 gestorbene Theodor Wünschmann(1901-1942), der mit „Der Todspieler“ in Erscheinung tritt, gilt noch als noch Spätromantiker. Denselben Text von Münchhausen komponierte auch Victor von Woikowsky-Biedau (1866-1935), ein Oberregierungsrat beim Preußischen Statistischen Landesamt in Berlin, der sich nebenbei musikalisch betätigte. In einer anderen musikalischen Liga spielt der Russe Anton Arensky (1861-1906), der bei Rimski-Korsakow und Tschaikowski studiert hatte und mit seinen packenden „Nymphen“, für die Turgenew die Vorlage lieferte, in die Edition einging.

Gelegentlich gleicht auch diese Neuerscheinung der Einladung zu einer Bildungsreise. Wer sich darauf einlässt, muss sich in seine tiefer gelegenen Bildungsschichten hinablassen, manchen Tops entschlüsseln, gelegentlich auch schon mal im Grimm’schen Wörterbuch nachschlagen oder sich mit überkommenen Begriffen und Formulierungen auseinandersetzen, deren Gebrauch riskant geworden ist. „Auf dem Meer der Lust in hellen Flammen …“ Die Zeile, die der Auftaktbox ihren Namen gab, ist so ein Beispiel. Sie entstammt dem Gedicht „Mischka an der Marosch“ von Nicolaus Lenau. Die Alliteration wirkt gewollt. Es gibt Titel, die griffiger sind. Auch bei Lenau. Mit Marosch ist – in deutscher Schreibweise – der Fluss Mureș gemeint, der durch Ungarn und Rumänien fließt. Mischka heißt ein Zigeuner, der sich an einem Grafen rächt, weil dieser seine Tochter verführte. Politisch korrekt ist das nicht. In der Literatur – und damit in manchen Melodramen – wimmelt es vor Begriffen und Anspielungen, deren gegenwärtiger Gebrauch vor allem deshalb schwierig ist, weil der Kontext verschwimmt und die historische Einordnung mühsam ist. Geschichte und Schauplatz haben beim Österreicher Lenau einen biografischen Bezug, was nicht unwichtig ist für das Verständnis seines Werkes. Er wurde 1802 in Ungarn geboren, wo sein Vater als habsburgischer Beamter tätig war. Die so ausschweifende wie melancholische Dichtung wurde von dem bereits erwähnten Pembaur d. J.  zu einem Melodram verarbeitet.

„Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“: In mittleren Teil seiner Edition hatte Pachl dieses Werk von Rainer Maria Rilke gleich zweifach aufgenommen. Einmal von Casimir von Pászthory, der das Werk 1914 mit Klavierbegleitung versah, zum anderen in der Bearbeitung durch Viktor Ullmann aus dem letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges 1944. Der 1886 in Budapest geborene Pászthory kam schon in jungen Jahren nach Deutschland, ging dann nach Wien, wo er Jura studierte und sich bald der Musik zuwandte. Er war NSDAP-Mitglied. Vornehmlich komponierte er musikdramatische Werke und Lieder, die vergessen sind. Einzig seine 1942 entstandene Oper Tilmann Riemenschneider kam 2004 in Würzburg wieder auf die Bühne. Ullmann, dessen Eltern vom jüdischen zum katholischen Glauben übergetreten waren, hatte – wie Pászthory – auch in Wien zunächst juristische Studien aufgenommen und war schließlich Kompositionsschüler Schönbergs geworden. Sein Melodram entstand im KZ-Ghetto Theresienstadt, wohin ihn die Nationalsozialisten verschleppt hatten. Dort fand auch die erste Aufführung statt. Wenige Wochen danach wurde Ullmann in Auschwitz ermordet.

Gegensätzlicher können die Hintergründe beider Kompositionen nicht sein. Rilkes Prosastück, das in seiner Verdichtung Züge eines Gedichts trägt, traf schon kurz nach seiner Veröffentlichung auf ein damals vorherrschendes fatalistisches Lebensgefühl. Der Erste Weltkrieg lag in der Luft. Allenthalben war die Begeisterung für den Waffengang weit verbreitet. Vor diesem Hintergrund hatten Heldentod-Geschichten Konjunktur. Rilkes Werk eröffnete 1912 mit der Nummer eins und einer Auflage von zehntausend Exemplaren die berühmte Inselbücherei und war sofort vergriffen. Inzwischen hat die Auflage die Millionen-Grenze weit überschritten. Das schmale Bändchen steht in fast jedem Bücherschrank, wurde genauso anteilnehmend gelesen – wie auch eklatant missverstanden. Bis auf den Vorspann verarbeitete Pászthory den gesamten Text. Er benötigt dafür mehr als eine halbe Stunde. Es gibt sehr melodiöse und elegische Momente. Wenn – um ein Beispiel anzuführen – die Rede auf „ein altes trauriges Lied“ kommt, „das zu Hause die Mädchen auf den Feldern singen, im Herbst, wenn die Ernten zu Ende gehen“, dann tönt aus dem Klavier eine entsprechende Melodie. Und wenn das Wachtfeuer brennt, dann tanzen die Flammen wie am Schluss von Wagners Walküre. Ullmann hält am Vorspann, der nicht ganz unwichtig ist für das Verständnis der Geschichte, fest. Dafür kürzt er an anderen Stellen und verdichtet damit den dramatischen Gehalt. Seine Tonsprache wirkt härter und unsentimental. In Booklet vermerkt Pachl musikalische Gemeinsamkeiten beider Werke und vermerkt, „dass Ullmann Pászthorys Version nicht unbekannt war“. Auch solche Verknüpfungen, durch die sich immer neue Zeitfenster öffnen, sind nicht nur ein nebensächlicher Aspekt dieser nun komplettierten Melodram-Sammlung (Bild oben: Giulio Aristide Sartorio (1816-1932) „La Sirena“ im deutlichen Bezug zu Goethes Gedicht  Antikoerperchen). Rüdiger Winter