Auf den Tenor Max Lichtegg bin ich vor Jahren durch ein Foto gekommen. Es zeigt ihn als Lohengrin. Ein schöner junger Mann mit blonden Locken. Ja, so hatte ich mir meine liebste Gestalt von Wagner immer vorgestellt, die in einem Nachen von einem Schwan gezogen angefahren kommt, um der bedrängten Elsa in höchster Not beizustehen. Das Foto stammt aus einer Inszenierung der Wiener Staatsoper von 1949. Mein erster Bühnen-Lohengrin in Weimar, wo die Oper bekanntlich uraufgeführt worden ist, war einen Kopf kleiner als seine Elsa, dunkelhaarig und neigte zur Fülle. Stimmlich machte er durchaus etwas her. Ich erinnere mich an einen leichten italienischen Einschlag. Wie mag nun Lichtegg geklungen haben? Es ist keine Aufnahme und kein Mitschnitt überliefert. Das ist schade, zumal es in London Pläne für Szenen im Studio gab. Erstmals hatte Lichtegg den Lohengrin 1944 in Zürich gesungen. Kritiker konnten und wollten sich den Tenor, der in Operetten und Mozart-Opern beschäftigt war, in dieser Rolle nicht vorstellen. Schließlich kam die Neue Zürcher Zeitung zu dem Schluss: „Die unerquicklichen und teilweise wenig taktvoll geführten Diskussionen um unseren neuen Lohengrin scheinen dem Publikumszuspruche keineswegs geschadet zu haben. Sämtliche Wiederholungen waren bis jetzt ausverkauft, und an begeisterten Dankeskundgebungen fehlte es ebenso wenig.“ Lichtegg sei „sehr erfreulich in die anspruchsvolle Titelpartie hineingewachsen und hält sie nach wie vor über die Gralserzählung hinaus bewundernswert durch bis zur letzten Note“. Mit monatelanger Unterbrechung folgte in Basel, schließlich 1947 Bern, wo ein amerikanischer Agent auf ihn aufmerksam wurde, dessen Interesse ursprünglich Marko Rothmüller galt, der den Heerrufer gab. Die Folge war ein Vertrag für die USA, wo vier Konzerte zu absolvieren waren. Ein Auftritt als Lohengrin an der Mailänder Scala scheitert daran, dass Lichtegg die Rolle nicht – wie damals an diesem Haus üblich – auf Italienisch beherrschte.
All diese Fakten hat der Schweizer Sänger und Musikschriftsteller Alfred A. Fassbind in seinem Buch Max Lichtegg – Nur der Musik verpflichtet zusammengetragen. Mit einem Umfang von 560 Seiten ist es im Römerhof Verlag Zürich erschienen (ISBN 978-3-905894-31-8). Es folgt dem klassischen Muster einer Biographie, beginnt mit Schilderungen des sozialen Umfeldes in Buczacz, einer Kleinstadt in Galizien, wo Lichtegg nach offiziellen Angaben am 17. Januar 1910 als Sohn Munio des jüdischen Hutfabrikanten David Lichtmann geboren wurde und endet mit dem plötzlichen Tod des Sängers am 22. September 1992 in Zürich. Als der Junge drei Jahre alt war, zog die Familie nach Stanislaw, die Gebietshauptstadt, wo im Gefolge des Ersten Weltkriegs das Anwesen der Eltern – der Vater war bereits gestorben – niedergebrannt wurde. Dabei kamen auch die Mutter und der jüngere Bruder Benjamin ums Leben. Verloren gingen auch alle Dokumente und Nachweise, sodass das Geburtsdatum später amtlich festgesetzt wurde. In Wien fand das Waisenkind 1919 Aufnahme bei einem Onkel. Im Knabenchor der Synagoge fiel sein Stimme auf. Damit war der Weg in seine künstlerische Laufbahn vorgegeben. Nach dem Tod des Onkels bezog er 1929 die Universität als Student der philosophischen Fakultät, verfolgte nebenbei aber zielstrebig seine musikalischen Interessen und nahm Gesangsunterricht. Der renommierte Pädagoge Victor Fuchs verschaffte ihm einen kostenlosen Platz in seiner Klasse. Aus Munio Lichtmann wurde Max Lichtegg. Unter diesem Künstlernamen debütierte mit seiner ersten Opernrolle bei einer Werbevorstellung der Gesangsschüler als Almaviva in Rossinis Barbier von Sevilla. Im Buch findet sich sogar der Programmzettel wieder.
Dieserart ist die dokumentarische Fülle. Man muss lange nach einer vergleichbaren Biographie suchen, die so in die Einzelheiten geht, dabei aber nicht bei der Hautperson verharrt. Im Umkreis von Lichtegg begegnen den Lesern die großen und weniger großen Namen der Zeit. Georg Solti und Lisa Della Casa müssen unbedingt genannt werden. Der ungarische Emigrant Solti lebte bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz, wo er sich auch als Pianist betätigte und Lichtegg 1946 bei der Schöner Müllerin in der Tonhalle in Zürich begleitete. Fassbind hat die Kritiken aufgetan, in denen dieser Liederabend regelrecht nachklingt. In einer dem Tenor gewidmeten CD-Edition, die beim Label Andromeda erschienen ist (ANDRCD 9127), wird diese Zusammenarbeit, die leider keine nachhaltige Fortsetzung fand, mit den Schubert-Liedern „Abschied“ und „In der Ferne“ von 1947 für die Decca belegt. Zeugnis der kurzen künstlerischen Partnerschaft mit der schon damals unverkennbaren Lisa Della Casa legt das Duett „Tat ich dir weh, verzeih‘ mir“ aus der Operette Tic-Tac von Paul Burkhard ab, der beide am Pult des Studio Orchesters von Radio Zürich auch begleitete.
Statt Lichtmann also Lichtegg. Nomen est omen. Für mich leuchtet die Stimme hell. Als habe sie Licht gespeichert. Sie verbreitet Wohlklang, Eleganz und Geschmeidigkeit. Es tut gut, ihm zuzuhören. Er bohrt nicht in der Tiefe, scheut Misstöne, um einem Gedanken dramatischen Nachdruck zu verleihen. Das brachte ihm den Vorwurf von Melomanen ein, zu oberflächlich zu agieren, zu unbeteiligt, zu gut gelaunt. Vieles klinge immer gleich. Ich kann diese Einwände sogar nachvollziehen, teilen möchte ich sie nicht. Denn dann müsste ich das, was ich als eine seiner Stärken empfinde, in Schwäche ummünzen. Lichtegg hat nicht das kräftigste Organ. Auch wenn er den Lohengrin bis zum Schluss mühelos durchstand, stellt sich eine gewisse Empfindlichkeit und Verletzlichkeit ein. Mir scheint, er hätte noch mehr an seiner Technik arbeiten können, um die Höhe, die gelegentlich aufgesetzt wirkt, zu stabilisieren. Man gewinnt manchmal den Eindruck, als habe er sich zu sehr auf seine Naturstimme verlassen. An Talent und Begabung gebrach es nicht. Damit war er überreich gesegnet. Immer wieder rühmen Kritiker seinen schwebenden und beseelten Vortrag. Das Timbre hat einen hohen Wiedererkennungswert und erinnert an Richard Tauber, der – wie zu lesen – sein Idol war, Josef Traxel und Karl Friedrich, die dasselbe Repertoire sangen wie er – neben Oper und Lied auch Operette.
Sowohl das Buch als auch der akustische Nachlass vermitteln anschaulich, wie breit dieser Sänger aufgestellt war. Alfred A. Fassbind hat auch das Vorwort im Booklet der Andromeda-Edition beigesteuert und dürfte auch selbst an der Zusammenstellung maßgeblich beteiligt gewesen sein. Dadurch ist ein direkter Zusammenhang mit seinem Buch gegeben. Schon bei der Lektüre kam es mir vor, als würde Musik aus den Seiten erklingen, so plastisch sind die Beschreibungen und viele der ausführlich zitierten Kritiken. Damals konnten deren Verfasser noch Stimmen beschreiben. Gäbe es keine Tondokumente, der interessierte Musikfreund hätte zumindest eine Vorstellung von der Stimme Lichteggs gewonnen. Nun ist zum Glück kein Mangel an Aufnahmen, auch wenn der undankbare Sammler gern gerade das vermisst, was es nicht gibt. Wie den Lohengrin. Dass Lichtegg Wagner singen konnte, vermittelt die große Schlussszene aus dem ersten Aufzug der Walküre, beginnend mit „Ein Schwert verhieß mir der Vater“. Mitgeschnitten wurde sie am 14. Dezember 1947 beim USA-Gastspiel im kalifornischen Escondido. Die Tonqualität der Radioübertragung mit der originalen An- und Absage ist im Großen und Ganzen superb. Sieglinde wird von Rose Bampton, die in dieser Partie sehr gefragt war, betont energisch gesungen. Dirigent Alfred Wallenstein schlägt mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra ein geruhsames Tempo an, so dass beide Solisten alle Zeit der Welt haben, die berühmte Szene musikalisch genau und absolut textgetreu auszubreiten.
In den starken Eindruck mischt sich die Klage darüber, dass nicht mehr Wagner mit Lichtegg überliefet ist. Dafür gibt es in der Box Hoffmanns Erzählungen, Frau Diavolo, Verkaufte Braut, Freischütz, Zauberflöte und Don Giovanni – wenn auch nicht durchweg in perfektem Klang. Mozart war für Lichtegg von zentraler Bedeutung. Er sei „Balsam für die Stimme“, wird er zitiert. Selbst im Alter von 76 Jahren überraschte der Sänger noch mit der vom Klavier begleiteten Bildnis-Arie, die auch in der Box zu finden ist. „Nicht zufällig fand er als Tamino-Interpret die größte Anerkennung, und keine seiner 120 Partien hat er länger im Repertoire behalten“, so Biograph Fassbind. Seltenheitswert besitzt der Auftritt als Schujskij 1955 in Monte Carlo neben Nicola Rossi-Lemeni als Boris Godunow unter der Leitung von Otto Ackermann. Der hatte die Oper zuvor in Zürich dirigiert und bestand darauf, dass Lichtegg auch diesmal dabei war.
Von Gastspielreisen unterbrochen blieb Zürich für den Familienmensch, der die Geborgenheit schätzte, zentrale Wirkungsstätte, wo er nach Angaben des Buchautors zwischen 1940 und 1956 als festes Ensemblemitglied 44 Opernrollen gestaltete, darunter bemerkenswert viele zeitgenössische Komponisten wie Schoeck, Hindemith, Menotti und Henze. In der ersten deutschsprachigen Aufführung von Igor Strawinskys The Rake‘s Progress im Jahr 1951 war er der Tom Rakewell. Noch mehr als fünfundzwanzig Jahre später sang er die Szene „Hier steh“ – wie ein privater Mitschnitt mit Klavierbegleitung in der Box verdeutlicht – mit erstaunlicher Sicherheit. Fassbind folgt seinem Sänger auf allen Stationen, als sei er selbst dabei gewesen, und lässt auch diskrete Einblicke in persönliche Ereignisse zu. Mit ordnender Hand fügt er die Fülle des Materials zu einer reich bebilderten Beschreibung einer Lebensreise zusammen, auf der sich Leser mitgenommen fühlen können.
Das Buch endet mit einem akribischen Rollenverzeichnis und einer Diskographie. 59 Opernrollen stehen 67 Rollen in Operetten gegenüber. Beide Seiten halten sich in etwa die Waage. Im Opernblock dominiert Mozart auch bei internationalen Gastspielen mit Tamino, Don Ottavio, Belmonte und Idomeneo. Ferrando ist lediglich mit einem Auftritt 1956 in Straßburg verzeichnet. Vergleichsweise oft sang er den Hans in der Verkauften Braut, den Alfred in der Traviata, den Herzog im Rigoletto und den Fenton im Falstaff. Sogar Don Carlos ist 1939 in Basel dokumentiert. Als Max im Freischütz war er ebenfalls in Basel und in Monte Carlo zu hören. Lohengrin sang auch an der Wiener Staatsoper, wo er in zwölf verschiedenen Werken insgesamt fünfundzwanzigmal gastierte. Den Stolzing in den Meistersingern hatte er zwar für Amerika studiert, letztlich aber nicht realisieren können. Bei den Operetten dominiert Franz Lehár mit Sou-Chong in Land des Lächelns, Goethe in Friderike, Paganini und Alexej in Zarewitsch. In Strauß-Operetten ist Lichtegg ebenfalls sehr umtriebig gewesen, so als Eisenstein in der Fledermaus, Herzog Urbino in der Nacht in Venedig und Barinkay im Zigeunerbaron.
Das Studium der Diskographie ergibt eine deutliche Diskrepanz zwischen Oper und Kunstlied auf der einen und so genannter heiterer Muse auf der anderen Seite. Es dominiert die leichte Kost. Fassbind hat insgesamt 257 einzelne Titel nachweisen können. Gesamtaufnahmen sind nicht dabei, lediglich einige Querschnitte wie durch Lehárs Lustige Witwe von 1951 (Decca) sowie ein Jahr später durch Kálmáns Gräfin Mariza und Benatzkys Weißes Rössl (Elite). Gemessen an der Diskographie würde Max Lichtegg als Operettenstar und Unterhaltungskünstler in die Musikgeschichte eingehen. Das würde ihm nicht gerecht. Und er hat auch selbst immer wieder gegen diese Image angesungen, das die Aufgaben, die ihm schon frühzeitig übertragen worden waren, mit sich brachten. Dennoch kommt mir es so vor, als habe die lebenslange Tätigkeit im leichten Fach auch sein Wirken auf der Opernbühne und als klassischer Liedsänger stimmlich nachhaltig geprägt. Wer sich davon ein Bild machen möchte, greife zum Auftrittslied des Boccaccio. Es ist, als ob Lichtegg beim Singen den Text diktiert. So genau und pointiert singt er. Wem das gelingt, der versteht sich auf Gesang aller Sparten. Rüdiger Winter
Das Foto oben zeigt Max Lichtegg als Lohengrin im Ausschnitt des Covers der CD-Box zu sehen, die bei Andromeda erschienen ist. Alle anderen Fotos sind dem Booklet mit Dank entnommen, Sie finden sich teilweise auch in der Biographie, die Alfred A. Fassbind über den Tenor im Römerhof Verlag verfasst hat.