Raffiniertes Kunstmärchen

 

Fast hundert Jahre nachdem Wagner Die Feen abgeschlossen hatte, legte Alfredo Casella seine ebenfalls auf Carlo Gozzis La donna serpente (Die Frau als Schlange, 1762) basierende Opera fiaba vor. Während Wagners erste Oper mehrere Jahrzehnte auf ihre erste Aufführung warten musste, gelangte Casellas Märchenoper im März 1932 auf die Bühne des Teatro Reale dell’ Opera in Rom, wo sich unter der Leitung des Komponisten und in der Inszenierung von Giovacchino Forzano u.a. Alessio de Paolis und Giovanni Inghilleri der in typischer Gozzi-Manier wie eine russische Matroschka verschachtelten Handlung annahmen. Es ist eine ziemlich unterhaltsame Oper, die zwei Jahre später nach Mannheim gelangte, doch dann selbst auf italienischen Bühnen (1942 an der Scala, 1982 in Palermo) eine ausgesprochene Rarität blieb. Im Rahmen eines „Festival Casella“ erinnerte 2016 das Teatro Regio in Turin unter Verwendung einer zwei Jahre zuvor beim Festival in Martin Franca gezeigten Inszenierung von Arturo Cirillo an die einzige Oper des 1883 in Turin geborenen (und 1947 in Rom gestorbenen) Casella , der wie Alfano, Malipiero, Pizzetti und Respighi der generazione dell’ottanta, also der Generation nach Puccini und den Veristen angehörte, die zumeist auf ältere italienische Musiktraditionen zurückgriffen. Zwar zeigte sich Casella in seiner Jugend von Wagner beeinflusst, aber La donna serpente wirkt in der wendigen Stilvielfalt, den hurtigen Rezitativen, den gewitzten Parlando-Einwürfen und den mehr als fünfzig kurzen Nummern, Minuten-Arien und Duetten, Terzett, Quartett und Quintett wie ein Zwilling von Prokofjews Gozzi-Oper Die Liebe zu den drei Orangen und in den zahlreichen Nummern der als Chorballett konzipierten Oper tatsächlich wie eine neoklassizistische Widerbelebung höfischer Divertissement-Opern.

In der Abkehr von Wagner oder Verdi finden sich in der Wiederbelebung klassischer Formen und Formeln Rossini-Reminiszenzen, aufrüttelnde Strawinsky-Rhythmik, puccineske Melodien für das Liebespaar, elegante Madrigalkunst, dabei farbig und bläserstark brillant instrumentiert, was Gianandrea Noseda und das Orchester des Teatro Regio lustvoll ausspielen, wozu nicht nur die Vorspiele zu jedem Akt, die Märsche, Tänze und Kampfszenen ausreichend Gelegenheit bieten; wie von der Liebe zu den drei Orangen gibt es von der Donna serpente eine Suite, frammenti orchestrali op. 50. Die drei Akte samt Vorspiel lassen trotz aller knalligen Rezitativ-Eile auch schmalen Raum für ernste Seiten und tiefe Gefühle. Das ist mehr als eine Farce. Arturo Cirillo mischt in seiner sehenswerten Inszenierung (Naxos 2.110631 DVD, mit einem informativen englischen Text von Ivan Moody) die Commedia dell’Arte-Aktionen mit stummen Spielern auf, halb Tänzer, halb Akrobaten, mit bloßem Oberkörper und in bunten Pluderhosen, die hier nicht nur neckisches Ornament sind, sondern die instrumentalen Momente, darunter den Traum des Altidòr, poetisch ausleuchten. Mit wehenden Mänteln, Turbanen, gerafften Röcken, Federkleidern, kunstvollem Haarputz und den Fantasiegewändern der Stegreifkomödie (Kostüme von Gianluca Falaschi) wird das sowohl märchenhaft illusionistische wie stilisierte Spiel zu einem raffinierten Kunstmärchen. Das ist durchgehend sehr hübsch anzusehen. Dario Gessatis Ausstattung mit ihren Kreisausschnitten und Halbbögen, den bläulichen Stimmungen und dem blutroten Mond (Licht: Giuseppe Calabrò) ist geschmackvoll, etwas plakativ vielleicht, im wahrsten Sinn des Wortes nicht sehr tief, was vermutlich den szenischen Gegebenheiten der Freilichtbühne beim Festival della Valle d’Itria geschuldet ist.

Es geht um die Menschwerdung der Tochter des Feenkönigs Demogorgón. Miranda hat sich in Altidòr verliebt, den König von Téflis, und ist dafür bereit, ihre Unsterblichkeit aufzugeben. So sei es. Unter einer Bedingung: Miranda darf dem Gatten ihre wahre Identität nicht enthüllen, und dieser darf sie nie verfluchen. Klappt das neun Jahre und einen Tag lang, wird Altidòr Miranda endgültig zur Frau erhalten. Andernfalls wird sie für 200 Jahre in eine Schlange verwandelt. Das wird im 20minütigen Prolog erzählt. Wir erinnern uns, dass Motive aus Gozzis Märchenspiele auch bei der Entstehung von Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten eine Rolle spielten. Die Handlung setzt genau neun Jahre später ein, während der Höflinge und Feen, Ungeheuer, Amazonen, Soldaten, Priester und Ammen mit falschen Vorspiegelungen an den Nerven des Paares zehren. Tatsächlich verflucht der König seine Gattin. Das Lamento der Schlangenfrau und ihr Wechselgesang mit dem Chor, Responsorio, zu Beginn des dritten Aktes gehört zu den umfangreichsten geschlossenen Nummern der Oper, zugleich zu den schönsten. Carmela Remigio, vielleicht etwas hart im gläsernen Feenton, kann in dieser Recitar Cantando-Szene („Vaghe stelle dell’Orsa“) als Miranda ihre stilistische Vielseitigkeit ausspielen und eine eindrucksvolle Figur erschaffen. Wie das für alle Beteiligten gilt, Pierro Prettis heldisch angespitzten, pathetisch schmachtenden König Altidòr, Erika Grimaldis kriegerische Schwester Armilia, Sebastian Catanas Demogorgòn-Bariton und die vielen Buffi wie Francesco Marsiglia als Alditrúf, Marco Filippo Romano als Albrigór, Roberto de Candia als Pantúl, Fabrizio Paesano als Tartagil, dazu Anna Maria Chiuri als Feen-Schwester Canzàde und Kate Fruchterman als Smeraldina. Natürlich können alle Unbill beseitig, alle Nebel gelichtet und alle Prüfungen bestanden und fast ein Meisterwerk bestaunt werden.  Rolf Fath