BAROCKE TRAVESTIE

 

Bei den zahlreichen Einspielungen und Aufnahmen barocker Arien kann sich bei aller Begeisterung manchmal eine gewisse Monotonie einstellen, Arie um Arie, Affekt nach Affekt, Nummer folgt Nummer. Dabei wußte man schon vor 300 Jahren um den Reiz (und die Ökonomie) des Pasticcios, bei der man Opern aus vorhandenem Material so zusammenstellen wollte, daß sich der Eindruck eines Ganzen einstellen sollte. Die Doppel-CD mit dem irreführenden Titel Baroque Gender Stories ist so eine Arienzusammenstellung, die man als Ganzes wahrnimmt, als eine gelungene Kombination barocker Musik unterschiedlichster Herkunft, der man 85 Minuten sehr gerne zuhört. Es gibt Musik und Arien aus Siroe in den Versionen von Johann Adolf Hasse, Baldassare Galuppi, Georg Christoph Wagenseil, Tommaso Traetta und Georg Friedrich Händel, der auch mit Deidamia, Serse und Alcina vertreten ist, Semiramide riconosciuta von Giovanni Battista Lampugnani und Antonio Porpora sowie aus Antonio Vivaldis Orlando furioso und Hasses Achille in Scirro. Mit Mezzosopranistin Vivica Genaux und Countertenor Lawrence Zazzo hat man zwei routinierte Sänger gewählt, bei denen man weiß, was man an ihnen hat. Der gemeinsame Nenner der Arien-Auswahl ist die barocke Travestie, es geht um Figuren, die etwas verbergen oder enthüllen wollen und um Arien mit ambivalenter Situation. In manchen der ausgewählten Opern gibt es Frauenrollen, die sich als Männer verkleiden (z.B. Emire in Siroe, Amastre in Serse, Bradamante in Alcina, Semiramide) sowie den als Frau verkleideten Achill (Deidamia bzw. Achille in Scirro) und manche Rollen wurde im 18. Jahrhundert variabel von einem Mann oder einer Frau gesungen. Genaux und Zazzo singen beide Prima Donna und Primo Uomo, in zwei Duetten übernimmt Genaux die Männerrolle, Zazzo die Frau. Die Travestie in der Barockoper geschah ursprünglich aus Gründen der Sittlichkeit. Daß Kastraten die Bühnen der Barockopern dominierten lag in gewisser Weise daran, daß manche kirchliche Würdenträger singende Frauen als unsittlich empfanden. Außerhalb Roms war das anders und als dann die Kastraten verschwanden, transponierte man für einen Tenor oder Frauen sangen in Hosenrollen. Diese Werke erzählen weder „Gender Stories“ noch geht es um Geschlechterrollen – die Besetzung der Rollen hat nichts damit zu tun, kastrierte Männer sind kein drittes Geschlecht, das Verbergen der wahren Verhältnisse war nur temporär, Verwechslungskomödien und Bühnenwerke, in denen sich Frauen als Männer verkleideten, thematisieren binäre Beziehungen. Als CD-Titel wäre wohl Baroque Travesty zutreffender gewesen. Ob man mit Gender Stories mehr Geld verdienen kann, sei dahin gestellt, wichtiger ist hier die überzeugende Qualität der Konzeption und Interpretation, die diese Aufnahme über den Durchschnitt erhebt und bemerkenswerte Arien kombiniert, bspw. das verweifelte „Rendimi l’idol mio“ Galuppis, Wagenseils leidenschaftliches „Esci, crudel. d’affanno“, Traettas düsteres „Che furia, che mostro“ sowie viele weitere Arien und Duette. Genaux‘ Mezzosopran und Zazzos Alt-Counter ähneln sich in der Stimmfarbe und tragen weiter zur Geschlechterverwirrung bei, wobei es für den situationsbedingten Ausdruck beim Zuhören allerdings kaum interessant ist, ob es sich nun um Hosen- oder Rockrolle handelt. Genaux‘ Stärke bei Ausdruck und Koloratur sowie Zazzos durchdachte Stimmführung harmonieren und Wolfgang Katschner erweist sich hier als idealer Taktgeber, er läßt seine Lautten Compagney Berlin oft extrovertiert bzw. quasi handgreiflich (Lampugnanis „Tu mi disprezzi“) aufspielen. Eine Doppel-CD mit Schwung und Leidenschaft die durch die Zusammenstellung jenseits von Arien- und Affektroutine auftrumpft (2 CDs, harmonia mundi, 19075943092). Marcus Budwitius