folgenloses vergessen

 

Im Jahr 2005 profilierte sich die Staatsoperette Dresden mit einer überregional vielbeachteten Konferenz, die den Titel Operette unterm Hakenkreuz trug. Sie fiel zusammen mit der damals noch jungen Intendanz von Wolfgang Schaller, der sich explizit für die einstmals als „entartet“ gebrandmarkten Jazzoperetten der Weimarer Jahre einsetzte – lange bevor Barrie Kosky das tat und TV-Serien wie Babylon Berlin die 1920er-Jahre wieder ganz groß herausbrachten. Leider hatten die u. a. von Dirigent Ernst Theis betreuten Produktionen und Rekonstruktionen von Emmerich Kálmáns Herzogin von Chicago (1928), Paul Ábraháms Viktoria und ihr Husar (1930) und Ralph Benatzkys Im weißen Rössl (1930) nicht die Impulswirkung der späteren Komische-Oper-Projekte, weil sie in einer teils erschreckenden Provinzialität (musikalisch, besetzungstechnisch, inszenatorisch) stecken blieben. Deshalb blieben diese Staatsoperetten-Projekte mehr oder weniger folgenlos und wurden schnell wieder vergessen.

Trotzdem ist aus jener Zeit ein Tagungsband erhalten, der quasi als Auftakt für eine Neubewertung der Operette vor/nach 1933 gesehen werden kann und ein Standardwerk zum Thema ist. Jetzt, wo Wolfgang Schaller als Intendant abtritt und den Weg in Dresden frei macht, für einen neuen und vor allem international wegweisenden Umgang mit Operette, kommt nochmals ein Essayband heraus zum Thema Operette vor/nach 1933. Er heißt „…was verloren ging“, behandelt aber explizit auch die Frage, was nach der Machtergreifung der Nazis erhalten blieb.

Diesem Aspekt der Kontinuität(en) hatte sich jüngst erst Matthias Kauffmann gewidmet (Operette im ‚Dritten Reich‘. Musikalisches Unterhaltungstheater zwischen 1933 und 1945, in der Serie Musik im ‚Dritten Reich‘ und im Exil, Band 18, von Bockel Verlag, 450 Seiten, ISBN 978-3-95675-006-9) – mit Heinz Hentschke als Intendant des Metropoltheaters Berlin als einem Fokus und vielen wichtigen Aspekten wie beispielsweise „Erotik“, „Exotik“ und „Starkult“ in der NS-Zeit.

Hier nun wird ein gänzlich anderer Weg eingeschlagen: Auf 145 Seiten von insgesamt 250 Seiten des Buchs untersucht Boris Kehrmann das Wirken und Werk des Regisseurs, Groteskkomikers und Librettisten Eduard Rogati, der vorwiegend in der zweiten Reihe und an Provinztheatern tätig war (dort teils zusammen mit Walter Felsenstein). Mit einer beeindruckenden Materialschlacht schildert Kehrmann, wie in der Provinz rückwärtsgewandte und sentimentalisierte Operettentraditionen an Stadttheatern über 1933 hinaus weiterlebten – und dies auch nach 1945 taten bis in die Zeit der jungen BRD. (Die DDR-Situation kommt nicht vor.)

Kehrmanns Fazit lautet, dass es in der Provinz kaum Brüche in der Aufführungstradition und im Verständnis des Genres gab. Allerdings konstatiert er auch, dass im Nationalsozialismus Operettenschaffende wie Rogati mit ihrer „Ästhetik der Provinz“ plötzlich den Ton für die gesamte Gattung angaben. Das war der Todesstoß für eine Form des unterhaltenden Musiktheaters, das ursprünglich und bis 1933 primär eine international vernetzte, kosmopolitische und kommerzielle Theaterform war und sich über die entsprechenden Ur- und Erstaufführungsproduktionen definierte. Diesen Aspekt erwähnt Kehrmann nur en passant. Dass es zwischen den Girl-Reihen und der nackten Haut einer NS-Revueoperette und einer Erik-Charell-Produktion am Berliner Großen Schauspielhaus der 1920er-Jahre einen sehr entscheidenden Lebensgefühlunterschied gibt sowie zwischen den erotischen Anspielungen vieler Libretti und Liedtexte vor/nach 1933 ebenfalls Lebensgefühlwelten liegen, das problematisiert Kehrmann nicht. Er erklärt auch nicht, was genau an Rogatis NS-Operette Alpenglühen „pornographisch“ am Tiroler Bauern-Quodlibet sein soll. Dafür setzt Kehrmann den „dadaistischen Humor“ von synkopierten Nonsens-Schlagern wie „Kau Kaugummi“ aus der Nachkriegsoperette Chanel No. 5 (1947) gleich mit Fritz Löhner-Bedas Zwanziger-Jahre-Nonsens und attestiert einer weiteren Friedrich-Schröder-Operette Premiere in Mailand (1949) einen „leisen Hang zur Offenbachiade“.

Ich muss gestehen, dass ich das recht verstörend fand, ebenso die Verwendung von Begriffen wie „Schnulze“ (S. 93) als Beschreibung von Fred Raymonds „Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren“, Text von Löhner-Beda. Was im 1920er-Jahre-Schlagerkontext ‚Schnulze‘ bedeutet, bei einem Autor, der auch „Ausgerechnet Bananen“, „Dein ist mein ganzes Herz“ und „Do-do-do“ textete, wäre meiner Meinung nach wichtig zu erwähnen, vor allem wenn man 145 Seiten Platz hat.

Eigentlich hätte der Rogati-Essay eine eigene Publikation sein müssen, denn er erdrückt die anderen Texte im Band und steht fast im vollständigen Kontrast zu ihnen. Wobei „die anderen“ vor allem die Zeit vor 1933 behandeln. Stefan Frey untersucht Leo Falls Spanische Nachtigall (1920) und „Operettendada“, der intellektuell und musikalische extrem prickelnd ist; was ich von Chanel No. 5 nicht behaupten würde. Peter Kramer schildert das tragische Schicksal der Rotter-Brüder und den Zusammenbruch ihres Theaterimperiums 1933; es ist eine Kurzfassung seines Buchmanuskripts Die Rotters. Scherz über „Hitlers Bart“ oder warum Berlins Operettenglanz den Untergang der Weimarer Republik nicht verhindert hat (2017), das noch einen Verleger sucht. Christoph Schwandt untersucht mit Frühlingsstürme – von Jaromir Weinberger für Richard Tauber und Jarmila Novotna geschrieben und im Januar 1933 uraufgeführt – die „letzte Operette der Weimarer Republik“, die kommende Spielzeit von Barrie Kosky an der Komischen Oper inszeniert wird. Daran anschließend analysiert Thomas Seedorf den Gesangsstil Richard Taubers („Ich singe überhaupt nicht Operette, ich singe nur Lehár“). Karin Meesmann gibt mit „Pál Ábrahám: mein Name wird gemacht“ einen ersten öffentlichen Vorgeschmack auf ihre große Ábrahám-Biografie und untersucht speziell die Unterschiede zwischen der ungarischen Viktoria und ihr Husar-Originalfassung und der späteren deutschen Erfolgsversion, mit der Ábrahám 1930 der Durchbruch gelang – mit einem Text von Fritz Löhner-Beda. Giselher Schubert nimmt Kurt Weills Der Kuhhandel (1933/34) in den Blick („Die beste Tradition der Operette“).

Vielleicht hätte eine ausführlichere Einleitung der Herausgeber Heiko Cullmann von der Staatsoperette Dresden und Michael Heinemann von der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden die extremen Gewichtungsprobleme dieses Essaybandes erklären und schildern können, warum ausgerechnet eine Provinzgröße wie Rogati derart viel Platz einnimmt, mit Stücken und Inszenierungen, die die Operettengeschichte kaum nachhaltig beeinflusst haben. Aber die Einleitung von Cullmann-Heinemann besteht aus drei Seiten und greift diese Aspekte nicht auf.

Trotzdem ist der Band eine wichtige Publikation, die dokumentiert, dass immer mehr Perspektiven auf das komplizierte Phänomen „Operette in der NS-Zeit und danach“ geworfen werden. Teils sind es gerade die Nebensächlichkeiten, die erschreckend aussagekräftig sind – etwa das Verhalten Rogatis bei seinem Entnazifizierungsverfahren, wo er haarsträubende Falschaussagen zu seinem Eintritt in die NSDAP machte, Falschaussagen, die typisch für die Epoche sind und über die zu lange unkritisch bis entschuldigend hinweggegangen wurde. Kehrmann schildert dies im Detail und schonungslos.

Für mich persönlich als Leser bleibt vor allem das Kapitel über die Spanische Nachtigall hängen, was dazu führte, dass ich mir sofort die Fritzi-Massary-Aufnahmen anhörte, die Truesound Transfers in einer eigenen Ausgabe herausgegeben hat. Auch wurde meine Neugierde auf Weills Kuhhandel geweckt sowie viel Vorfreude auf Weinbergers Frühlingsstürme – wobei ich mich frage, wie die Komische Oper eine Tauber/Novotna-Operette heutzutage adäquat besetzen will oder kann. Man wird es sehen.

Dass das Wirken von Personen wie Eduard Rogati die Operette in der Nachkriegszeit prägen konnte, erklärt im Nachhinein, warum das Genre dem Untergang geweiht sein musste – egal wie viel „Hang zur Offenbachiade“ darin angeblich zu finden sein soll, von „dadaistischem Humor“ ganz zu schweigen. Da ist, für mich zumindest, der „Operettendada“ von Leo Fall oder Paul Ábrahám für die heutige Zeit deutlich anschlussfähiger. Man darf daher gespannt sein, ob die junge neue Intendantin der Staatsoperette, Kathrin Kondaurow, künftig mehr in Bewegung setzen kann als ihr Vorgänger das schaffte, der sich von diesem Band ein „Nachdenken über Prozesse von Repertoirebildung und Aufführungspraxis“ erhofft.

Dieses Nachdenken lohnt, und die Staatsoperette Dresden ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, „was verloren ging“ und wie verheerend die „Ästhetik der Provinz“ für die Positionierung der Kunstform Operette immer noch ist. Hoffen wir mal, dass Kathrin Kondaurow diese Provinzialität abschütteln kann. Hinweise darauf, wie das geht und wie’s nicht geht, finden sich auf den 250 Seiten des vorliegend Bandes zuhauf  („…was verloren ging“ Operettenkultur nach 1933; Beiträge einer Tagung der Staatsoperette Dresden, hrsg. v. Heiko Cullmann und Michael Heinemann; 250 Seiten, Thelem Verlag, ISBN 978-3-95908-467-3)Kevin Clarke

 

Kevin Clarke hat 2005 zusammen mit Carin Marquardt die Tagung „Operette unterm Hakenkreuz“ für die Staatsoperette Dresden konzipiert und organisiert, die Herausgabe des Tagungsbandes hat Uwe Schneider mit den bereits fertig edierten Texten im Auftrag von Wolfgang Schaller übernommen, als damals neuer Chefdramaturg des Hauses.