Eigenwillige Auswahl

 

150 Jahre Wiener Staatsoper – Die Jubiläumsedition: Bei Orfeo schrumpft diese ereignisreiche Zeitspanne allerdings auf 65 Jahre. Erst auf der letzten Seite des schmalen Booklets offenbart sich ziemlich kleingedruckt und kommentarlos, was es mit der individuellen Zeitrechnung auf sich hat. Die in die Sammlung aufgenommenen Opern wurden zwischen 1955 und 2016 mitgeschnitten. Mit Alban Bergs Wozzeck ist zumindest der Neuanfang im Haus am Ring, der als bedeutendes Ereignis in die Musikgeschichte eingegangen ist, dokumentiert. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg war es am 5. November 1955 mit Fidelio von Ludwig van Beethoven unter starker Anteilnahme internationalen Besucher und Medien eröffnet worden. Über Lautsprecher wurde die von Karl Böhm geleitete Premiere ins Freie übertragen. Angeschlossen waren Rundfunkstationen mit Millionen Hörern in aller Welt. Die BBC hielt große Szenen als Film fest. Obwohl es nur wenige Fernseher gab in Österreich wurde die Eröffnung vom ORF gesendet. Auf Fidelio folgten neue Produktionen von Mozarts Don Giovanni, mit dem das Opernhaus 1869 eröffnet worden war, die an selber Stelle 1919 uraufgeführte Frau ohne Schatten von Richard Strauss, Verdis Aida, Wagners Meistersinger und der Rosenkavalier, ebenfalls von Strauss. Ihren Abschluss fand die festliche Opernserie am 25. November mit Wozzeck, auf den noch ein Ballettabend mit Giselle von Adolphe Adam und Der Mohr von Venedig von Boris Blacher folgte.

Wie aus einer Dokumentation des Online-Merker hervorgeht, hinterließ Wozzeck den „geschlossensten Eindruck. Nehers Bühnenbilder und Schuhs Inszenierung steigerten die Stimmung des Werkes ins Visionäre, womit sie sich mit der Musik trafen, die trotz ihres strengen Formengebäudes visionär ist und etwas von der Wirkung einer musikalischen Atombombe hat“. Die Philharmoniker unter Böhm hätten ihre „moderne Lieblingsoper mit der gleichen Hingabe wie eine Straussoper“ gespielt“. Und weiter:Walter Berrys Wozzeck verdeutlichte Not und Vision des Unterdrückten. Dazu sang er die Partie, sang sie sogar noch dort, wo das Singen nicht mehr möglich scheint. Christl Goltz als Marie, erregend in ihrer weiblichen Brutalität, Karl Dönch als Doktor, voll skurriler Dämonie, und Peter Klein als tragikomischer Hauptmann boten eine vollkommene Leistung. Mit 28 Vorhängen übertraf die Aufführung alle vorangegangenen.“ Unerwähnt bleibt Max Lorenz in der Rolle des Tambourmajor. Lorenz war schon seit Ende der 1920er Jahre als Heldentenor ein Star in Wien und hatte auch unmittelbar nach Kriegsende in der Ausweichspielstätte, dem Theater an der Wien, an alte Erfolge anschließen können. Im neuen Haus sollte es bei drei Vorstellungen in dieser Rolle bleiben. „Was ein Mann! Wie ein Baum!“, sagt Margret zu Marie. In der Erscheinung mag das noch zutreffend gewesen sein für Lorenz, in der Stimme nicht mehr. Seine Mitwirkung reduziert sich aufs Museale. Er steuert nur noch seinen Namen bei und keine künstlerische Leistung, die in die Zukunft weist. Und dennoch war es angebracht und nobel, Lorenz noch einmal eine Bühne zu geben. Von alledem ist bei Orfeo nichts zu lesen. Den spärlichen Angaben zufolge ist dieser Wozzeck eine ganz gewöhnliche Vorstellung im November 1955 gewesen. Nicht einmal für den Hinweis auf den Tag der Vorstellung hat es gereicht. Im dürren Booklet finden sich lediglich die Track-Listen und eine Inhaltsangabe. Das ist zu wenig und zu lieblos für so eine Gedenkedition für eines der traditionsreichsten Opernhäuser der Welt.

Alle Vorstellungen dieser Festwochen haben als Tondokumente überlebt, wenngleich in unterschiedlicher Klangqualität. Bis auf die Aida, die in einigen inoffiziellen Pressungen in das Jahr 1956 verlagert wurde, was schon deshalb unmöglich ist, weil der Dirigent Rafael Kubelik nur für vier Aufführungen im Rahmen der Eröffungsfestspiele im November 1955 zur Verfügung stand, sind alle anderen Opern bei ihrer Veröffentlichung genau terminiert. Don Giovanni und Aida, in Italienisch komponiert, wurden deutsch gesungen, was sich unter Herbert von Karajan, der 1957 auf Böhm an der Spitze des Hauses folgte, ändern sollte. Orfeo selbst hatte 2005 mit einem Mitschnitt der Frau ohne Schatten-Premiere vom 9. November überrascht. Aus dem Enthusiasmus dieser Aufführung erwuchs noch im selben Jahr die berühmte erste Studioproduktion, für die Böhm bis auf den Barak von Ludwig Weber, der aus rechtlichen Gründen durch Paul Schoeffler ersetzt werden musste, das gesamte Ensemble mitnahm. Mit der Aufführung und der Produktion im Großen Saal des Musikvereins, zu der die Decca erst überredet werden musste, trat die Festspieloper ihren späten internationalen Siegeszug an. Insofern hätte dieses Werk auch die neue Edition geschmückt.

„150 Jahre Wiener Staatsoper“ – nicht nur diese fehlt: der Wiener Wagner-Felsen Gertrude Grob-Prandl hier als Isolde mit Max Lorenz in Mailand/ Foto Piccagliani/ Isoldes Liebestod

Stattdessen gibt es anderen Strauss, so eine der vielen Elektra‘s mit Birgit Nilsson, die zehn Jahre nach der Wiedereröffnung mitgeschnitten und 2014 ebenfalls von Orfeo offiziell herausgegeben wurde nachdem es bereits Veröffentlichungen – noch als LP – auf dem so genannten grauen Markt gegeben hatte. Für mich ist das ihre beste Aufnahme auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie singt noch nicht so eisig und erbarmungslos, wirkt menschlicher und anrührender. Ebenbürtig neben ihr agieren Leonie Rysanek als entschlossene, im Anflug in die Höhen etwas matte Chrysothemis und Regina Resnik als angstgeschüttelte Klytämnestra. Unter den fünf Mägden sticht Gundula Janowitz unverkennbar gläsernem Ton hervor, und die Aufseherin Danica Mastilovic wurde später selbst eine berühmte Elektra. Noch aus Tausenden herauszuhören ist Gerhard Unger als junger Diener Gerhard Unger mit seinem frischen Tenor. Eberhard Waechter, der den Orest singt, wird bereits sehr vernehmlich von seiner schweren Stimmkrise geplagt und gibt eine tragische Figur ab, weshalb die Frage erlaubt sein muss, ob es wirklich Sinn machte, den Mitschnitt erneut an die Öffentlichkeit zu bringen.

Näher an die Gegenwart heran führt die Ariadne auf Naxos von 2014, deren Entstehungsschichte ebenfalls mit Wien eng verbunden ist. Nach der erfolglosen Uraufführung der ersten Fassung in Stuttgart wurde 1916 an der damaligen Hofoper das Werk in seiner endgültigen Form präsentiert. Bei dem Mitschnitt in der Edition dürfte es sich um den Einstand von Christian Thielemann als Dirigent der Oper vom 12. Oktober handeln, der damals zu Recht sehr gefeiert wurde. Genannt wird der genaue Vorstellungstermin nicht. Arthaus/Unitel kündigen eine separate DVD-Version an. Die Szene im Bild würde dem Verständnis auf die Sprünge helfen, das die Tonspur über weite Strecken schuldig bleibt. Wer das Stück nicht auswendig kennt oder kein Libretto zur Hand hat, ist verloren und kann im turbulenten Prolog kann allenfalls dem Musiklehrer (Jochen Schmeckenbecher), dem Tanzmeister (Norbert Ernst) und dem Haushofmeister (Peter Matic) folgen. In der eigentlichen Oper, wenn auch musikalisch mehr Ruhe einkehrt, treten die Stimmen von Soile Isokoski (Ariadne), Daniela Fally (Zerbinetta) und Johan Botha (Bacchus) deutlich hervor.

„150 Jahre Wiener Staatsoper“ – auch diese fehlt: lange Jahre unersetzlich Elisabeth Höngen, hier als Amme/ Foto Fayer

Noch in glänzend Form ist Eberhard Waechter, der spätere Direktor der Wiener Staatsoper, im Fidelio aus dem Jahr 1962, bei dem es sich um den Premierenmitschnitt vom 25. Mai handelt, was unerwähnt bleibt. Dabei trat Herbert von Karajan in der Doppelfunktion als Dirigent und Regisseur in Erscheinung. Waechter singt den Don Fernando mit großer Würde und tiefer innerer Bewegung angesichts des Wiedersehens mit dem tot geglaubten Freund Florestan, den er nun im Ketten gelegt findet. Selten dürfte die Oper aufregender und packender geklungen haben. Es ist, als stehe die Aufführung unter Hochspannung. Christa Ludwig sang zum ersten Mal die Leonore. Mit ihrer Nervosität heizte sie das Drama erst richtig an. Sie setzte stimmlich alles auf eine Karte – und gewann. Mit diesem Debüt hat die Sängerin, die jüngst ihren 90. Geburtstag beging, Operngeschichte geschrieben. Auch Gundula Janowitz debütierte als selbstbewusste Marzelline an der Seite von Waldemar Kmentt als Jaquino. Als hochindividuelles Ausdrucksmittel könnte mit dem zeitlichen Abstand zur Aufführung die Indisposition von Jon Vickers als Florestan durchgehen. Sein Kampf gegen die gesundheitsbedingte Einschränkung, den er mit Professionalität ausficht, verwächst mit der Rolle und macht die Figur nach langer Kerkerhaft glaubhafter. Don Pizarro ist Walter Berry, Rocco Walter Kreppel. In der Edition ist der Mitschnitt, den sich Orfeo bei der Deutschen Grammophon ausgeliehen hat, völlig unter Wert verkauft. Warum ausgerechnet dieser Fidelio, frage ich mich, zumal die originale Ausgabe mit einem inhaltsstarken Booklet noch im Handel ist.

1977 kehrte der einstige künstlerische Leiter der Wiener Staatsoper, Herbert von Karajan, nach langer Abwesenheit an seine alte Wirkungsstätte zurück, dirigierte Aufführungen von Bohème, Trovatore und als Neuproduktion am 10. Mai in der Regie von Jean-Pierre Ponnelle Mozarts Le Nozze di Figaro. Anna Tomowa-Sintow, die die Contessa singt, trat erstmals am Haus auf und hinterließ mit ihrer betont fraulichen Anlage der Rolle so großen Eindruck, dass fortan zu den Lieblingen des Publikums gehörte. Ileana Cotrubas gab die Susanna, Frederica von Stade den Cherubino, Tom Krause den Grafen und José van Dam den Figaro. Ins Jahr 1988 führt Rossinis Il viaggio a Reims – auch ein Premierenmitschnitt vom 20. Januar unter Claudio Abbado – mit der hinreißenden Lucia Valentini-Terrani als Marchesa Malibea. Im April 2013 sang Anna Netrebko in vier Vorstellungen von Eugen Onegin die Tatiana. Eine davon ging in die Edition ein, offenbar die erste vom 12. des Monats. Dirigent ist Andris Nelsons, der zunächst etwas schleppende Tempi anschlägt, dann aber tief einzudringen versteht in dieses russische Seelendrama. In der ersten Szene sind die Stimmen nach meinem Eindruck nicht sehr gut auseinander zu halten. Das gibt sich, wenn der Chor abtritt und die Stunde der Solisten schlägt. Für die Netrebko, umjubelter Star des Abends und von Kritikern gar mit der Duse verglichen, ist die Rolle ein Heimspiel, für ihren Landsmann, den viel zu früh verstorbenen Dmitri Hvorostovsky als Onegin ebenfalls. Dmitry Korchak, der Lenski, beschwört in seiner großen Szene vor dem Duell auf bewegende Weise die Tradition der alten russischen Tenorschule wie der Gremin von Konstantin Gorny den Vergleich mit seinen berühmten Vorgängern russischer Zunge auch nicht scheuen muss.

„150 Jahre Wiener Staatsoper “ – auch Agnes Baltsa – fester Posten in Wiener Besetzungen –  fehlt in der Kompilation (hier mit Luis Lima in „Cavalleria rusticana“)/ Wikipedia

Dieser Mitschnitt macht auf sehr erfreuliche Weise deutlich, welch überzeugende und geschlossene Wirkung sich einstellen kann, wenn die Solisten Muttersprachler sind und sich die Texte nicht phonetisch einpauken müssen. Indem sie wissen, was sie singen, teilen sie sich auch dem Teil des Publikums mit, welcher ihre Sprache nicht versteht. Hvorostovsky taucht in Verdis Un ballo in maschera als René Ankarström an der Seite von Krassimira Stoyanova als Amelia, Piotr Beczala als Gustaf, Nadia Krasteva als Ulrica und Hila Fahima als Oscar wieder auf. Dirigent ist Jesús López Cobos. In der Edition ist der April 2016 als Aufführungszeitraum genannt. In diesem Monat gab es laut Archiv der Staatsoper vier Vorstellungen in identischer Besetzung. Welche nun aufgenommen wurde, bleibt unbekannt. Nachdem er als Riccardo Forth in Bellinis Puritani erstmal in Wien zu hören gewesen ist, blieb Hvorostovsky ein gern gesehener Gast. Die Krankheit hatte ihm inzwischen stimmlich zugesetzt. Mit dem alten Germont in Traviata sang er im November seine letzte Opernrolle. Ein Jahr später ist er in London gestorben.

„150 jahre Wiener Staatsoper“: nicht nur diese fehlt – Superstar der Karajan-Ära Renata Tebaldi, hier als Celebrity auf dem Cover von TIME-Magazin.

Die Schwedin Nina Stemme trat 2003 erstmals als Senta im Fliegenden Holländer im Haus am Ring auf. Es folgten Sieglinde, Brünnhilde, Leonora (Forza del destino), Ariadne, Tosca, Marschallin, Minnie, Elektra, Leonore, Kundry. Im Oktober 2019 kommt die Färbersfrau in der Frau ohne Schatten hinzu. Am 13. Juni 2013 hatte Wagners Tristan und Isolde in einer neuen Produktion, die von Franz Welser-Möst, betreut wurde, Premiere. Daran schlossen sich im selben Monat in dichter Reihenfolge vier weitere Vorstellungen an. Immer waren die Stemme die Isolde und Peter Seiffert der Tristan. Orfeo gibt sich mit dem Datum des Mitschnitts auch hier vage und nennt lediglich den Juni. Dem hohen Paar bleibt nichts erspart. Der gnädige Strich im zweiten Aufzug ist aufgemacht. Die Stemme steht die Partie mit eiserner Entschlossenheit durch. Nach reichlich Wagner in aller Welt ist Seiffert, der die sechzig überschritten hatte, noch immer ein beeindruckender Tristan, der seine Kräfte ökonomisch einzuteilen weiß und nach Pausen, die ihm die kräftezehrende Partie zuweilen lässt, mit immer neuer Energie ins Geschehen zurückkehrt. Gestalterisch bringt der Däne Stephen Milling reichlich Kapital ein, was seiner Klage eine gewisse Kurzweiligkeit verleiht.

In dem als Bonus ausgewiesenen Doppelalbum schimmert schließlich noch etwas vom alten Glanz auf, dem die Wiener Staatsoper bis heute ihren Ruhm verdankt. Es gibt Szenen mit Lisa della Casa, Anneliese Rothenberger, Maria Reining, Sena Jurinac, Mirella Freni, Edita Gruberova. Placido Domingo, Luciano Pavarotti, Franco Corelli, geleitet von Dirigenten wie Hans Knappertsbusch, Joseph Keilberth, Josef Krips, Karl Böhm. Genannt werden nur die Aufnahmejahre. Sonst nichts. Rüdiger Winter