Vom Ort der Uraufführung

 

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ So beginnt einer der meistinterpretierten Romane der Weltliteratur. Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ beginnt mit dem 30. Geburtstag von Josef K. und endet am Vorabend seines 31. Geburtstages. Nie wird Josef K. wissen, wer den Prozess gegen ihn führt, worin die Anklage besteht und wessen er sich schuldig gemacht hat. Die Beteuerungen seiner Unschuld werden als Schuld gewertet. „Die quälende Angst, die uns aus dem Buch anweht, ist in manchen Augenblicken fast unerträglich“, sagte André Gide, der gemeinsam mit Jean-Louis Barrault eine Dramatisierung vorgenommen hatte, „denn wie sollte man sich der Empfindung erwehren, dieses gehetzte Wesen bin ich?“ Alles ist bei Kafka so penibel beschrieben, dass kein Zweifel an den Vorgängen aufkommen kann. Allerding ist das Beschriebene so ungewöhnlich zusammengesetzt, dass jede Logik außer Kraft getreten scheint. Die Vorgänge in Kafkas Roman sind keineswegs real im Sinn einer Opernhandlung, „aber gerade dies muss zur Musik führen“, wie Gottfried von Einem im Vorfeld der Salzburger Uraufführung 1953 ausführte, denn „sie drückt das Irreale oder besser das Imaginäre des Stoffes aus“. Am Stoff des Romans musste nichts geändert werden, einige Stationen wurden ausgewählt, die Dialoge sind wörtlich die Kafkas, einzig die indirekte Rede wurde einige Male in die direkte Rede verwandelt. Die Musik dient der Verdichtung der neun Bilder, die durch formale und instrumentale Mittel die Besetzung mehrer Rollen mit einem Sänger verklammert sind. Die Tenorpartie des Josef K. ist die einzige durchgehende Partie der Oper.

Mit dem sensationellen Erfolg seiner Oper Dantons Tod hatte sich der knapp 30jährige Operndebütant Gottfried von Einem 1947 derart glänzend bei den Salzburger Festspielen eingeführt, dass er umgehend in das Festspielpräsidium berufen wurde. Allerdings musste er den Posten nach seinem Einsatz für die Einbürgerung Bertolt Brechts 1951 abgeben. An den Prozess-Erfolg musste rasch angeknüpft werden, jedoch verzögerte sich die für 1950 angedachte Uraufführung des Prozess, da von Einem die von seinem Freund Boris Blacher verfassten sechs Szenen durch drei weitere Szenen von Heinz von Cramer ergänzen ließ. Wieder war die Premiere am 17.8.1953 prominent besetzt: Karl Böhm dirigierte, Max Lorenz sang den Josef K., Lisa della Casa die in drei Frauen aufgespaltene Sopranpartie, die Nachbarin Fräulein Bürstner, die Frau des Gerichtsdieners und die Advokatenpflegerin Leni. Doch mehr als die Musik wurden die realistische Inszenierung Oscar Fritz Schuhs und die atmosphärischen Bühnenbilder von Caspar Neher gelobt. Relativ rasch lahmte die Erfolgsserie des Prozess. Als Referenz vor der eigenen Festspielgeschichte wurde er 1988 und zuletzt 2018 zum hundertsten Geburtstag von Einems konzertant in Salzburg gegeben. Der Mitschnitt des Aufführung (2 CD Capriccio C5358, mit Libretto) aus der Felsenreitschule unter seinem Schüler HK Gruber von 13./14. August 2018 bestätigt einerseits die einstigen Vorbehalte gegen die durchaus eingängige, in ihrer lyrisch melodische Weise und dem klobig deklamatorischen Stil oft ein wenig zu banal wirkende Musik, um das Grauen zu fassen. Zeigt andererseits auch in Grubers virtuoser Umsetzung mit dem Wiener Radio-Sinfonieorchester von Einems instrumentale Brillanz mit ihren rhythmischen Ostinati, den Bläsersignalen, der Passacaglia und den trockenen Gruselmomenten. Sicherlich hat diese Literaturoper Staub angesetzt. Als präsentables Dokument der Opern-Avantgarde der 1950er Jahre taugt sie immer noch. Der mit Partien des Spiel- und Charaktertenors befasste Michael Lorenz bringt – mit ganz anderen stimmlichen Möglichkeiten als Max Lorenz – für den Josef K. durch seinen intensiven, flexiblen, jugendlich verletzlich klingenden Tenor eine intensive Kafka-Nähe mit. Ilse Eerens singt Fräulein Bürstner und Co. ohne Fehl, Anke Vondung macht viel aus der Frau Grubach. Die teilweise für drei oder vier Partien zuständigen Jochen Schmeckenbecher, Matthäus Schidlechner, Lars Woldt, Johannes Kammler und Tilmann Rönnebeck und der nur für den Maler Titorelli verantwortliche Jörg Schneider bilden ein gutes Ensemble.  Rolf Fath