Neapolitanisches aus Apulien

 

Das mittlerweile 44. Festival delle Valle d’Itria fand im vergangenen Sommer in Martina Franca in Apulien statt, und wie immer offerierte man dem Publikum im Hof des Palazzo Ducale eine Rarität, diesmal sogar ein Werk, dessen Partitur verloren gegangen war. Es handelt sich um Händels Rinaldo, wahrlich weder selten noch verloren gegangen, wohl  aber die Fassung für Neapel, die, ein echtes Pasticcio, neben der Musik Händels auch die von Leonardo Leo und anderer Komponisten enthielt. 1711 war Rinaldo in London uraufgeführt worden, 1718 wurde die neapolitanische Version zum ersten Mal gespielt, die mehrere für Neapel typische Änderungen im Vergleich zur Londoner Version zeigte. So musste zu Beginn eine Ehrung des Herrscherhauses, das über das Königsreich beider Sizilien seine Macht ausübte, ein Prolog, der eigentlichen Oper vorangehen, das die Opernhandlung mit einem Geschehen der jüngsten Zeit in Verbindung brachte. Weiterhin erwartete man auch in der tragischsten Handlung Intermezzi mit Buffacharakter. Für Neapel wurden auch die Handlung und die Charaktere des Rinaldo verändert. So verliert hier die Zauberin Armida ihre magischen Kräfte, Argante ist mehr Liebhaber als Krieger, Almirena weniger engelhaft, Goffredo, weil als Ebenbild des Habsburger Königs angesehen, wird herrscherlicher (was die Regie zurücknimmt), es gibt für Armida kein lieto fine. Auch die Stimmfächer wurden leicht verändert, so ist Almirena nicht wie in London Sopran, sondern Contralto, die Titelpartie allerdings wurde in beiden Premieren vom Kastraten Nicola Grimaldi gesungen. Im Booklet zur Aufführung aus Martina Franca erläutert der Musikologe Giovanni Andrea Sechi, ausführlich und eindrucksvoll, wie es ihm gelang, die verloren gegangene Partitur wieder herzustellen. Ausschlaggebend war dabei der Fund eines Manuskripts in der Bibliothek von Longleat House in England zu Beginn dieses Jahrhunderts. Nicht unwichtig war die Erkenntnis, dass einige der 32 Nummern der Oper aus den sogenannten Arie di Baule, den Kofferarien, die auf Wunsch der Sänger von den Komponisten in ihre Werke eingefügt wurden, bestanden. Wenn man in den vollen Genuss der DVD kommen möchte, sollte man unbedingt das Booklet, in Italienisch und Englisch verfügbar, lesen. Die Untertitel gibt es auch in deutscher Sprache.

Die szenischen Möglichkeiten im Hof des Palzzo Ducale in Martina Franca sind beschränkt, doch ohne Video-Bemühung gelingt Alberto Nonnato gemeinsam mit seinem für die Beleuchtung Verantwortlichen Paolo Pollo Rodighiero eine stimmungsvolle Bühne, die die Kreuzfahrer- und die Zauberreichebene deutlich sich voneinander unterscheiden lässt. Die Kostüme von Gianluca Sbicca sind bunt und leicht karikierend für die christliche Seite, während das für Armida einfach wunderschön ist. Almirena hingegen scheint mit ihrem Rokokokleid durch eine Dornenhecke gewandert zu sein, die auch die Frisur in Unordnung brachte. Lächerlich wirkt der Goffredo mit glitzernder Sonnenbrille und überlangen Spitzenmanschetten. Die Regie von Giorgio Sangati vollführt einen gelungenen Drahtseilakt zwischen Ernsthaftigkeit und Spottlust den Personen gegenüber. Eine abwechslungsreiche Choreographie für das Begleitpersonal führt dazu, dass auch den Augen während der teilweise langen Arien etwas geboten wird.   Fabio Luisi, seit Jahrzehnten dem Festival in Treue zugetan, leitet das barockkundige Orchestra La Scintilla und sorgt für immer wieder neue Spannungsmomente.

Die kleineren Partien sind mit Studenten der nach dem Festivalgründer Rodolfo Cellletti benannten Musikakademie besetzt, die sich achtbar schlagen. Die Titelpartie singt mit rundem, bruchlosem, warm klingendem Mezzosopran Teresa Iervolino, „Cara sposa“ und „Lascia ch’io pianga“ mit feinen Abbellimenti sind natürlich Hightlights, aber sie klingen bei ihr auch wie solche. Carmela Remigio ist Armida mit klarer, höhensicherer Sopranstimme und wirklich furibonda im Duett mit Rinaldo. Die Stimme von Loriana Castellano klingt angenehm im Zusammenspiel mit der Flöte, mit der die Almirena ein Duett zu singen scheint. Trocken und herb erscheint der Tenor von Francisco Fernandez-Rueda für den Heerführer Goffredo, einen geschmeidigen Mezzosopran hat Dara Savinova für den Eustazio, während Francesca Ascioti als Argante Registerbrüche offenbart.

Der Prolog zu Ehren des Herrschers wird von einem kleinen Mädchen, La Vittoria, vorgetragen, die angebliche Huldigung ad absurdum geführt. Das derb-verliebte Dienerpaar tummelt sich zur Freude der Zuschauer in den Intermezzi und darf ganz zu seinem Schluss sogar ein Wort, „T’amo“, singen (1 DVD Dynamic 37831). Ingrid Wanja