Belcanto Bully

 

Auf Seite 307 erfährt der Leser, der immer wieder mit Freude nach dem Buch Domenico Barbaja  von Philip Eisenbeiss über den charismatischen neapolitanischen Impresario  gegriffen hat um weiterzulesen, warum die Lektüre eine so anregende wie angenehme ist. „Die Leidenschaft hat mich getrieben“, bekennt der Autor freimütig, so wie er nicht verhehlt, dass er eigentlich lieber Opernsänger geworden wäre, stattdessen mangels Talents jedoch Headhunter in Honkong wurde, ohne je die Liebe zur Oper zu verleugnen. Ein weiterer Pluspunkt des Werks ist die Tatsache, dass Eisenbeiss bewusst nicht den Anspruch erhebt, ein streng wissenschaftliches Buch geschrieben zu haben, dazu gibt es von dem und über den so schreibfaulen wie -unbegabten Impresario Barbaja zu wenige Primärquellen, sondern sich weitgehend auf Sekundärquellen stützt und es sich so erlauben kann, auch einmal im Konjunktiv Vermutungen auszusprechen im Stil von „er dürfte sich“ oder auch „davon kann man wohl ausgehen“. „Schillernder Pate des Belcanto“ ist der Untertitel des Buchs, das an seinem Beginn mit einer Karte des Italiens der Zersplitterung und Kleinstaaterei in die historische Situation am Ende des 18. Jahrhunderts einführt. Der Leser nimmt mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis, dass der Impresario damaliger Zeiten nicht nur Sängeragent, sondern auch Theaterleiter, Arbeitgeber für Komponisten, Besitzer einer Kostümabteilung sein und alles erst einmal aus eigener Tasche bezahlen musste. Die blieb leer, wenn die Aufführungen kein Erfolg waren, also trug  er das volle Risiko, das nicht unbedingt durch Gaben des jeweiligen Hofes, eher schon durch die Einnahmen der Spielbank, die oft mit dem Opernhaus verbunden war, gemildert wurde. Der gestresste Besucher heutiger Aufführungen merkt auf und kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass die hohen Subventionen für die heutigen Theater nicht nur positive Seiten haben, wenn auf den Geschmack des Publikums keinerlei Rücksicht mehr genommen werden muss.

Eisenbeiss stellte an den Beginn seiner Forschungen einen Besuch im Museum der Mailänder Scala, wo sich an wenig prominenter Stelle das einzige wohl noch existierende Portrait Barbajas befindet. Der Sammelsuriumscharakter des Museums wird dezent verschwiegen, in Neapel weitergesucht und im San Carlo eine Büste des langjährigen Leiters aus der Hochblütezeit gefunden und inzwischen nach dem Erscheinen des (englischen) Buches an einen attraktiveren Platz gerückt.

Der Verfasser begnügt sich nicht mit einer Lebensgeschichte seines „Helden“, dessen unsympathische Züge wie Grobheit, Unbildung und Willkürlichkeit er nicht verschweigt, sondern gibt umfassende und stets interessante Einblicke in das politische und kulturelle Leben Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, schreibt über den italienischen Impresario, von denen Barbaja einer der wenigen erfolgreichen war,  über die Theaterlandschaft Italiens, später kommen noch Wien und Paris dazu.  Natürlich steht im Mittelpunkt der Lebens- und Karriereweg Barbajas vom Kaffeehauskellner (als der er die Barbagliata, Kaffee mit Schokolade, erfindet),  über den Croupier, der an der Scala das Roulette einführt bis hin zum Beherrscher eines Imperiums.

Philip Eisenbeiss has been living in Hong Kong for the past 20 years, where he has been working as a banker and financial headhunter. After extended training as an opera singer, he started his career in journalism.(Haus Publishers)

Schicksalsstadt ist für Barbaja jedoch Neapel, Hauptstadt des Königreichs beider Sizilien mit wechselhafter, teils von Franzosen, so Napoleons Marschall und Schwager Murat, geprägter Geschichte. Eisenbeiss führt eine Fülle von Zeugnissen europäischer, auch deutscher Besucher der Stadt, die Etappe der Kavaliersreisen war, an, so Lord Byron, Stendhal, Dumas oder den Komponisten Louis Spohr. In diesem Kapitel sind die einzigen winzigen Irrtümer, wenn Kastraten generell als impotent angesehen werden oder von Frauen im Orchester (Musikerinnen) ausgegangen wird. Ein Übersetzungsfehler dürfte „zeigten kein Nachsehen“ anstelle von „Nachsicht“ sein, und Ermiones Geschlecht wird verwechselt. Der Autor zeichnet ein farbiges, interessantes Bild der Bourbonenherrschaft und der neapolitanischen Gesellschaft sowie des größten Opernhauses  Italiens, neben dem Barbaja noch zwei weitere für die semi seria und die buffa betrieb.

Drei Komponisten verdanken ihren Aufstieg dem mit einem sicheren Instinkt begabten Impresario: Rossini, Bellini und Donizetti. Sie komponierten für Barbaja, allerdings weder den Barbier noch Norma noch Lucia. Für alle drei gestalteten sich die Beziehungen zu ihm zwar konfliktreich, doch gäbe es manche ihrer Opern nicht, hätte es den immer nach Uraufführungen gierenden Agenten nicht gegeben.

Die Vielseitigkeit des Buches zeigt sich unter vielem anderen auch darin, dass in den Abschnitten über Brand und Wiederaufbau des San Carlo viel über Architektur der damaligen Zeit einfließt, bis hin zu den Toiletten oder indem über die Verflechtung von Politik, Finanzen und Kultur am Beispiel des Aufstiegs der Rothschilds berichtet wird.

Eine interessante CD bei Naxos vereint Auftragsmusik des Intendanten Barbaja (8.578237)

Neben den besten Komponisten band Barbaja in seiner Hochzeit auch die berühmtesten Sänger an seine Häuser, zu denen zeitweise auch Scala und Kärntnertor-Theater gehörten. Seine und später Rossinis Gattin Colbran, Malibran, Pasta, Rubini, Lablache waren von ihm abhängig. Einen höchst lebendigen Eindruck empfängt der Leser von der Schilderung beschwerlichen und gefährlichen Reisens, von den Gefahren der Cholera, der Prozesssucht, der Missachtung des Urheberrechts und der strengen Zensur der Libretti -kurzum, man verlässt das Buch und meint, man habe für eine Zeit lang in dieser so gefahrvollen wie interessanten Epoche gelebt.

Am Schluss des Buches gibt es nochmal eine Würdigung des nicht immer freundlich behandelten „Helden“ des Buches, der immerhin dem San Carlo zu seiner glänzendsten Epoche verhalf, die Aufführungen und nicht das Publikum in den Mittelpunkt stellte, indem er u.a. Vorhänge vor den Logen abschaffte, seine älteren Mitarbeiter nicht entließ und Notleidende unterstützte.

Der umfangreiche Anhang umfasst die dramatis personae, Bourbonen und Habsburger 1638-1859, die Opern Barbajas, Erläuterung zu den Währungen, Anmerkungen, Bibliographie, Register

Ein Buch, das zugleich so umfassen zu bilden und so angenehm zu unterhalten weiß, ist eine Seltenheit (ISBN 978 3 947641 01 7; . 368 Seiten, Sieveking-Verlag 2019; dazu auch die Kritik zur vorausgegangenen englischen Originalausgabe von Charles Jernigan).   Ingrid Wanja