Die Vivaldi-Edition des französischen Labels Naïve ist vermutlich aktuell das ambitionierteste diskographische Vorhaben, über 400 Autographen sollen eingespielt werden, mit der Oper Il Giustino soll nun mit CD-Erscheinung Nr. 58 die 85. Werkeinspielung und die 18. Oper auf dem Markt sein. Uraufgeführt wurde die Oper in der Karnevalssaison 1724 in Rom, also in durchgängig männlicher Besetzung, die Aufnahme verzichtet allerdings auf Countertenöre. Das Libretto stammt ursprünglich von Nicolò Beregan und wurde 1683 von Legrenzi erstmals vertont; Händels gleichnamige Oper von 1737 beruht ebenfalls auf einer Überarbeitung von Beregans Textbuch. Es ist nicht die erste Einspielung dieser Vivaldi-Oper, und das aus gutem Grund: Giustino ist quasi eine Anthologie wirksamer Arien in effektvollen Szenen und komplett erhalten (und zwar als einzige der zwischen 1721 und 1726 komponierten Opern). Virgin brachte 2002 eine stark gekürzte Aufnahme mit Alan Curtis und Il complesso barocco auf zwei CDs heraus, Bongiovanni im selben Jahr eine umfängliche Version mit Esteban Velardi und dem Alessandro Stradella Consort auf vier CDs. Die historisch inspirierte Handlung der Oper dreht sich um den späteren byzantinischen Kaiser Justin I. (nicht zu verwechseln mit seinem Adoptivsohn Justinian I.), der es im 6. Jahrhundert als Bauersohn über eine militärische Laufbahn bis an die Spitze des Staates schaffte. Vivaldis Giustino zeigt eine erfundene Episode aus seiner Karriere. Das frisch verheiratete Kaiserpaar von Byzanz Anastasio und Arianna sind in Gefahr, die Stadt wird vom Tyrannen Vitaliano belagert, der Arianna als Witwe des verstorbenen Kaisers Zeno selber zur Frau will und sie gefangen nehmen kann. Arianna bleibt Anastasio treu und verweigert sich dem Usurpator, Vitaliano läßt sie an einem Felsen ketten, an dem ein Seeungeheuer sein Unwesen treibt, das sie töten soll. Durch einen Schiffbruch landen Anastasio und Giustino, der Anastasios Schwester Leocasta liebt, zufällig an genau diesem Felsen, töten das Monster, befreien die Kaiserin und können letztendlich Vitaliano besiegen – ein lieto fine für die beiden Paare. Bei Vivaldis Opern hört man heute den Instrumentalkomponisten heraus. Tendenziell sind die Arien flächig koloriert und tonmalerisch oder energiegeladen vibrierend. Vivaldi kopierte seine Musik gerne und verwertete sie in anderen Stücken. In Giustino sollen über 20 Nummern aus früheren Werken entlehnt sein, Vivaldi hat hier quasi eine eigene anthologische Zusammenstellung beliebter Nummern erstellt. Die Musik blieb, der Text wurde oft neu unterlegt – den szenischen Moment scheinen Vivaldis Arien deshalb auch mal zu verfehlen. In Giustino scheint Vivaldis Bemühen um dramatische Struktur allerdings spürbar, der 1. Akt endet mit der Konfrontation zwischen Arianna und Vitaliano, der 2. Akt mit der effektvollen Arie „Ho nel petto un cor si forte“. Unter den 38 Arien dieser Oper sind einige bemerkens- und hörenswerte Stücke und auch das heutige Barockpublikum hat mit mancher willkürlich wirkenden Wendung kaum noch Probleme – Giustino wirkt beim Anhören dieser Neuaufnahme wie ein Werk, dass man gerne live hören wollte.
Acht Sänger singen neun Figuren, auf Countertenöre wird verzichtet. In der Titelrolle hört man Delphine Galou (sie ist als stimmlich sicherer Contralto auch bei der aktuellen Aufnahme von Händels Serse bei DG beteiligt). Giustino verleiht sie in „Bel riposo de’mortali“ eine samtig angeraute Weichheit, „Ho nel petto“ benötigt als instrumentelle Besonderheit eine Ur-Zither – ein Psalterium – , mit dem Galou ausdrucksstark kontrastiert, „Su l’altar di questo nume“ ist heroisch gelungen – eine starke Besetzung. Als Anastasio fehlt der deutschen Mezzosopranistin Silke Gäng ein wenig die stimmliche Verführungskraft. Sieben Arien hat sie zu singen, darunter die bekannten und auch in Konzerten gerne aufgeführten „Vedrò con mio diletto“ sowie „Sento in seno“ – Gäng interpretiert diese von gezupften Streichinstrumenten begleitete Arie fast zu schlicht, ein wenig mehr plastische Ausschmückung hätte der Expressivität gut getan. Die Arianna von Emöke Barath hat vor allem Liebesbekundungen zu singen, ihre fünf Arien interpretiert sie höhen- und koloratursicher, „Mio dolce amato sposo“ beendet stark den 1. Akt, das Vogelgesang imitierende „Augelletti garruletti“ ist ein wirkungsvoll interpretiertes Arioso. Tenor Emiliano Gonzalez Toro singt gerne Bachs Evangelisten, die sechs Arien des tyrannischen Vitaliano gelingen mit flexibler Stimme, die bei höher gelegenen Koloraturen auch mal meckernd klingen kann, „Vanne sì, superba, va“ fehlen ein wenig der Hochmut und die Wut, „All’armi, o guerrieri“ mit Trompetensolo hat hingegen Emphase. Die Schweizer Sopranistin Ana Maria Labin hat als Leocasta fünf Arien, die sie mit warmer und strahlender Stimme und schönen Koloraturen gefühlvoll interpretiert, darunter auch das schöne Naturbild „Senti l’aura“, das Lamento „Senza ‚amato ben“ und das gut gelaunte „Sventurata navicella“. Die Arien des General Amantio singt Ariana Vendittelli mit schönem Sopran, in den beiden kleinen Nebenrollen als Andronico (Bruder des Vitaliano) und Polidarte (ein Militär im Dienste Vitalianos) ist Tenor Alessandro Giangrande zu hören. Rahel Maas hat als Fortuna genau eine (und wahrscheinlich den Fähigkeiten des damaligen Sängers entsprechend eine wenig bemerkenswerte) Arie, wenn sie Giustino im Traum erscheint, zuvor wird ihr Erscheinen allerdings orchestral eingeleitet vom Beginn des Frühlings aus den Vier Jahreszeiten.
Der italienische Cembalist und Dirigent Ottavio Dantone erweist sich als Interpret eines energiegeladenen und doch ausgeglichenen Vivaldi, der starke, aber keine überzogenen Akzente setzt. Das Barockensemble Accademia Bizantina umfasst neben dem bereits erwähnten Psalterium weiterhin Streicher, Fagott, Schlagzeug und Barockgitarre sowie doppelt besetzte Oboen, Trompeten, Hörnern und Cembalos. Die Instrumentierung ist abwechslungsreich, musiziert wird atmosphärisch dicht (auch sonst, denn den Sturm zu Beginn des 2. Akts lässt man bspw. 15 Sekunden als unterlegte Tonkonserve wirken), Cembalo und Gitarre sind präsent und schön heraushörbar. Die empfehlenswerte, wenn auch nicht restlos überzeugende Studioaufnahme erfolgte im April 2018 in Ravenna und beruht auf einer Edition des renommierten Reinhard Strohm. Das Beiheft ist mehrsprachig, das Libretto allerdings nicht in Deutsch (was den deutschsprachigen Sammler erbittert, sind doch die drei deutschsprachigen Länder der größte Absatzmarkt in Europa!/ G. H.) (3 CD, Naïve, 876368) Marcus Budwitius