Marinella, Marinella …

 

An Montserrat Caballé, die mit 85 Jahren am 6. Oktober in Barcelona verstarb, erinnere ich mich genau. Ich ging noch zur Schule, kurz vor dem Abitur in unserer Kleinstadt in der Nähe von Bremen, und mein Vater hatte ein Abonnement für die Familie am dortigen Theater, wo die Caballé mit der rothaarigen Kollegin Lore Paul in der Lustigen Witwe alternierte. Lore Paul gefiel mir mehr. Die aber landete später als Souffleuse im Graben, während Montserrat Caballé ihren internationalen Durchbruch in New York als Ersatz für die schwangere Horne  (ihrerseits Ersatz für die Scotto) in Donizettis Lucrezia Borgia neben Alain Vanzo verbuchen konnte. Der Rest ist Geschichte, auch „Barcelona“ 1992 mit Freddy Mercury bei den Olympischen Spielen.

Nachstehend noch einmal eine Zusammenfassung ihrer glanzvollen Karriere, von der ich immer wieder ein Stück miterleben konnte, mal in London, mal in Barcelona, mal in München, auch in Berlin in der legendären konzertanten Semiramide neben der Horne (die Sache mit der Fliege…) oder bei der Tosca mit dem Slow-motion-Finale. Aber eben leider auch in der ebenso legendären Ermione 1987 in Pesaro erneut neben der Horne, wo sie dem Buhorkan des aufgebrachten Publikums die Dirigierpartitur Gustav Kuhns entgegen hielt und behauptete, sie haben alle diese kleinen schwarzen Noten gesungen. Hatte sie nicht, beziehungsweise hatte sie für sich neu entdeckt. 1994  sang sie wieder in Bremen ohne nachhaltigen Erfolg (wie sich der Kollege Wolfgang Denker erinnert), auch wenn die angereisten Fans das anders sahen. Und mehrere Jahre später  erlebte (muss man sagen) ich sie mit ihrer ellenlangen Tochter beim open-air-Konzert an den Docks von Bremerhaven, wo der aufkommende Wind nicht nur den Musikern die Blätter von den Pulten riss und man nur ahnen konnte, welcher Kunst man beiwohnte. Sie hat einfach zu lange ihren eigenen Zirkus mitgemacht.

De mortui nihil nisi bene – sie war eine große Sängerin, in Bestzeiten mit einer stupenden Singtechnik, den berühmten gefloateten Topnoten unglaublicher Süße. Und als ihre ersten LPs bei RCA erschienen, die mit den Zarzuela-Ausschnitten und dem geheimnisvollen Foto hinter dem schwarzen Fächer, danach die Rossini- und Bellini-Arien, da raunte die Fachwelt und wir Opernliebhaber. Wer war sie? Weder die Scotto noch die Callas hatten diese Stimme, auch die Sutherland und natürlich die Sills nicht. Wir waren verzaubert. Schnell machte die Caballé Karriere und unendlich viele Schallplatten. Sie hat vielen, vielen Bewunderern wirklich ein Paradies auf Erden bereitet. Sie ist um die Welt gereist, hat unendlich viele Menschen erreicht, hat mit ihrem sprichwörtlichen Lächeln und grenzenlosen Humor Oper von einer menschlichen Seite kommuniziert. Daran wird man sich erinnern. Nicht an die hässlichen Steuerprobleme der jüngsten Zeit, nicht an die Gerüchte über die mafiösen Methoden ihres Bruders, der eine Welt-beherrschende Künstleragentur betrieb. Nicht an die vergeblichen Versuche, ihre singende Tochter in Engagements zu bringen. Auch nicht daran, dass sie vielleicht letzten Endes zu groß gesungen hat und beim Belcanto hätte bleiben sollen. In Erinnerung bleibt eine generöse, freundliche, äußerst humorvolle füllige Frau mit dem großen Lächeln und der in Bestzeiten wirklich wunderbaren Stimme. Und ihre erste LP mit den Zarzuela-Arien, immer noch ihre beste (trotz der aufregenden DVD ihrer Norma aus Orange) lässt für uns noch immer diesen Hauch von Zitrus und heißer spanischer Ebene  herüber wehen. „Marinella“, „Marinella“ –  eine bedeutende Stimme ist verstummt. Gracias, Senora. G. H.

 

Dazu ein originaler Auszug  aus dem unersetzlichen Sängerlexikon von Kutsch&/Riemens: Caballé, Montserrat, Sopran, * 12.4.1933 Barcelona; ihre Ausbildung erfolgte am Conservatorio di Liceo in Barcelona bei Eugenia Kemmeny, Napoleone Annavazzi und Conchita Badia und wurde in Mailand abgeschlossen. 1956 Bühnendebüt am Stadttheater von Basel (Mimi in »La Bohème«), dem sie bis 1959 angehörte. 1959-62 war sie am Stadttheater von Bremen engagiert; 1962-63 unternahm sie eine Konzerttournee durch Mexiko und gastierte an der Oper von Mexico City als Manon von Massenet, 1963 sehr erfolgreiches Gastspiel in ihrer Heimatstadt Barcelona. 1965 ersetzte sie in New York ohne vorherige Probe Marilyn Horne in einer konzertanten Aufführung von Donizettis »Lucrezia Borgia« in der dortigen Carnegie Hall. Sie sang 1965 bei den Festspielen von Glyndebourne die Gräfin in »Figaros Hochzeit« und die Marschallin im »Rosenkavalier«. 1965 folgte sie einem Ruf an die Metropolitan Oper New York, an der sie als Marguerite im »Faust« von Gounod debütierte. Seitdem feierte sie an diesem traditionsreichen Opernhaus wie an allen großen Bühnen der Welt ihre Triumphe. In der unerschöpflichen Vielseitigkeit ihres Rollenrepertoires wie in der souveränen Beherrschung der Gesangstechnik, verbunden mit einer ungewöhnli chen Dramatik des Vortrages, erwies sie sich als wirkliche Nachfolgerin der großen Maria Callas. 1967 feierte man sie an der Metropolitan Oper als Traviata; Gastspiele an der Covent Garden Oper London (1972 als Traviata, seit 1975 regelmäßig dort aufgetreten), an der Grand Opéra Paris, am Teatro Colón von Buenos Aires, an der Oper von Rio de Janeiro, am Teatro Liceo von Barcelona und am Teatro San Carlos von Lissabon brachten ihr glänzende Erfolge ein. Sie gastierte weiter seit 1969 regelmäßig an der Mailänder Scala und an den führenden Operntheatern Italiens, an der Staatsoper von Wien, seit 1971 auch an der Staatsoper von Hamburg, an der Oper von Mexico City, in San Francisco und Chicago, wo sie 1970 als Traviata debütierte, und wo man sie 1973 in der Titelpartie der Oper »Maria Stuarda« von Donizetti erlebte, dazu am Bolschoj Theater Moskau, in Zürich, Genf und Budapest. Ihre viel bewunderten Kreationen an der Scala waren vor allem die Norma, die Tosca und die Titelheldinnen in den Donizetti- Opern »Lucrezia Borgia« und »Maria Stuarda«. Sie erwarb sich große Verdienste um die Wiederbelebung der gesangstechnisch schwierigen, vergessenen Belcanto-Opern von Bellini, Rossini, Donizetti und einiger Verdi-Opern. 1974 große Erfolge bei den Festspielen von Orange als Norma, 1979 an der Metropolitan Oper in der Titelrolle von Cileas »Adriana Le couvreur«. Sie sang sogar Wagner-Partien wie die Sieglinde in der »Walküre«. 1983 war sie beim Festival von Perugia die Hypermestra in »Les Danaïdes« von A. Salieri, 1986 bei den Festspielen von Verona die Maddalena in »Andrea Chénier« von Giordano, 1986 in Rom die Titelfigur in »Agnese di Hohenstaufen« von Spontini. 1987 hörte man sie in Pesaro in »Ermione« von Rossini, ebenfalls 1987 in Barcelona als Saffo in der klassischen Oper gleichen Namens von G. Pacini. 1988 gastierte sie an der Wiener Staatsoper wie 1992 an der Covent Garden Oper London als Mme Cortese in der wieder neu entdeckten Rossini-Oper »Il Viaggio a Reims«. 1990 sang sie in Barcelona in »La Fiamma« von O. Respighi, 1991 in einer speziell für sie eingerichteten Inszenierung der Richard Strauss-Oper »Salome« die Titelrolle, die sie bereits 1959 an der Wiener Staatsoper vorgetragen hatte. 1992 hörte man sie bei den spektakulären Eröffnungskonzerten der Weltausstellung von Sevilla und der Olympiade in Barcelona. Auch als Lieder- und Oratoriensängerin hatte sie eine glanzvolle Karriere. So gab sie u.a. 1987 einen Liederabend bei den Festspielen von Salzburg. 1994 sang sie im Vatikan in Rom in einem Konzert vor Papst Johannes Paul II. Die Leuchtkraft ihrer Stimme, die hohe Musikalität der Stimmführung und eine souveräne Beherrschung der Gesangstechnik kennzeichneten jede ihrer Inter pretationen. Dabei ist die Vielseitigkeit ihres künstlerischen Gestaltungsvermögens immer wieder bewundert worden. – Verheiratet mit dem spanischen Tenor Bernabé Martí (* 1934), auch ihre Tochter Montserrat Martí trat als Sängerin (u.a. 1995-96 in Konzerten zusammen mit ihrer Mutter) auf.

 

Lit: R. Pullen & St. Taylor: »Montserrat Caballé. Casta Diva« (1994); G. Farret: »Montserrat Caballé« (Paris, 1980). Zahlreiche Aufnahmen auf den Marken Vergana (spanische Zarzuelas), RCA (integrale Opern »Lucrezia Borgia«, »Norma«, »La Traviata«, Titelheldin in »Salome«, »Bajazzo«, »Ein Deutsches Requiem« von Brahms), HMV-Electrola (»Giovanna d’Arco« von Verdi, »Don Carlos«, »Manon Lescaut« von Puccini, »Wilhelm Tell« von Rossini, »Cavalleria rusticana«) CBS (»Gemma di Vergy« von Donizetti, »Aroldo« von Verdi), Philips (»I Masnadieri« von Verdi), Decca (»Mefistofele« von Boito, »Andrea Chénier« von Giordano, Adalgisa in »Norma« mit Joan Sutherland in der Titelpartie), Alhambra (»Madame Butterfly« zusammen mit ihrem Gatten B. Martí), Harmonia mundi (»Caterina Cornaro« von Donizetti). Viele Mitschnitte von Opern u.a. auf Memories (»Agnese di Hohenstaufen«), auf Foyer (»La Traviata«, »Armida« von Dvořák, eine frühe Aufnahme aus den sechziger Jahren) und auf HRE (»L’Africaine« von Meyerbeer). Die Künstlerin ist so reichhaltig auf Schallplatten vertreten, daß eine auch nur annähernde vollständige Übersicht nicht möglich ist.

 

[Nachtrag] Caballé, Montserrat; 1958 sang sie am Stadttheater von Basel in der Uraufführung der Oper »Tilman Riemenschneider« von Kasimir von Paszthory. In Basel sang sie in drei Jahren eine Vielzahl von Partien, darunter die Pamina in der »Zauberflöte«, die Aida, die Tosca, die Martha in »Tiefland« von d’Albert, die Arabella von R. Strauss, die Chrysothemis in »Elektra« und die Salome, ebenfalls von R. Strauss. In Bremen fügte sie die Traviata, die Tatjana im »Eugen Onegin«, die Titelrollen in den Opern »Armida« und »Rusalka« von Dvořák hinzu. 1960 trat sie erstmals an der Mailänder Scala als Blumenmädchen im »Parsifal« auf. 1998 sang sie in Barcelona die Titelrolle in Massenets »La Vierge«. – Lit: F.G. Barker: Montserrat Caballé (in »Opera«, 1975). [Lexikon: Caballé, Montserrat. Großes Sängerlexikon, S. 3481 (vgl. Sängerlex. Bd. 1, S. 520; Sängerlex. Bd. 6, S. 265) (c) Verlag K.G. Saur]