Revolutionär und Reaktionär

 

Im Jahre 1839 schrieb Luigi Cherubini, der damals schon über 40 Jahre am Conservatoire in Paris gewirkt hatte und es inzwischen seit Jahrzehnten leitete, an den Innenminister und schlug ihm den Namen eines jungen Kollegen für den Posten des Aushilfsbibliothekars vor. Das Empfehlungsschreiben hat sich erhalten, aber Hector Berlioz, um den es ging, behauptete lange, Cherubini habe ganz im Gegenteil gegen ihn intrigiert. Cherubini und Berlioz: Nicht zu Unrecht wählt Marc Vignal in seiner neuen Monographie über den Florentiner die Beziehungen zwischen den beiden Musikern als roten Faden für die Erzählung von Cherubinis Leben seit den 1820er Jahren. Ihre Hassliebe ist sprichwörtlich. Berlioz, der kein direkter Schüler Cherubinis, sondern des milden Jean-François Lesueur (1760-1837) war, stellte Cherubini gerne als jenen alten Zopf dar, der er tatsächlich war, insofern als er, 1760 in Florenz geboren und u.a. noch von Giuseppe Sarti (1729-1802) unterrichtet, das Conservatoire nutzte, um die Ideale eines strengen Klassizismus zu erhalten und zu verbreiten (nicht zufällig heißt die Institution ja „Erhaltungsanstalt“). Dabei war er, der Autor der Lodoiska (1791), der Médée (1797) und vor allem der Deux Journées (1800), einmal als ein Erneuerer angesehen worden, etwa von Beethoven, der ihn bewunderte und dann 1805/1806 in Wien auch treffen konnte. Bei aller Abneigung zollte indes auch Berlioz dem Komponisten Cherubini seinen Respekt, so sehr er auch den Funktionär verabscheute. Vignal erzählt sein Leben chronologisch, von der Jugend in bescheidenen Verhältnissen in der Toskana über die Pariser Triumphe des späten 18. und frühen 19. Jh. bis hin zum Tode 1842, kurze Zeit nachdem er endlich seinen Rücktritt als Direktor des Konservatoriums eingereicht hatte. Die biographische Darstellung wird durch Abschnitte unterbrochen, in denen der Verfasser die wichtigsten Werke Cherubinis kurz vorstellt. Dankenswerterweise berücksichtigt Vignal dabei nicht nur die Opern, sondern auch die Kammermusik, etwa die interessanten Streichquartette, die nach wie vor leider wenig gespielt werden, seine einzige Symphonie und die großen Messen. Vertiefte Interpretationen wird man allerdings vergeblich suchen. Vignal beschreibt lediglich knapp die Nummern und Sätze der einzelnen Werke. Überhaupt erfährt man hier fast nichts über die ästhetischen Ideale Cherubinis. Auch unter Berücksichtigung des geringen Umfanges, der vorgegeben ist, hätte man sich eine intensivere Auseinandersetzung mit Cherubinis Musik gewünscht. Sorgfalt sollte der Leser von dieser an sich gut lesbaren Darstellung auch sonst nicht erwarten. Die Reihe Horizons des Verlages Bleu Nuit zählt inzwischen über 50 Bände und hat sich zum verdienstvollen Ziel gemacht, die westliche Musikgeschichte in Einzelmonographien einem breiteren Publikum näher zu bringen. Nicht nur die Großen wie Beethoven oder Brahms finden Berücksichtigung, sondern auch wichtige Persönlichkeiten, welche der Musikliebhaber heutzutage nicht mehr gut kennt, etwa Michael Haydn, Salieri (beide Bände stammen von Marc Vignal), Méhul, Spontini oder Florent Schmitt. Leider ist die Reihe die Königin der Schlampereien: auch im Cherubini-Band wimmelt es von Druckfehlern, Quellen werden nicht angegeben, die schwarz-weißen Abbildungen sind schlecht, und die Graphik spottet jeder Beschreibung. Immerhin enthält er eine Chronologie, einen Werkkatalog, eine Bibliographie, eine Diskographie sowie ein Namensregister. Das Buch sei dennoch all denjenigen empfohlen, die sich für Cherubini interessieren, dessen Médée inzwischen regelmäßig in den Spielplänen auftaucht (in der bald beginnenden Saison z.B. an der Berliner Staatsoper, in Saarbrücken und in Linz), und die die weit gehaltvolleren Publikationen auf Italienisch von Giulio Confalonieri, Vittorio della Croce und zuletzt Giovanni Carli Ballola (2015) wegen der Sprache nicht lesen können (Marc Vignal, Luigi Cherubini, Bleu Nuit Editeur, 176 Seiten, s/w Abb., ISBN 978-2-35884-064-4, 20.- Euros). Michele C. Ferrari