Einige Balladen bieten sich an, mit verteilten Rollen vorgetragen zu werden. Egal, ob sie nun vertont sind oder nicht. Das ist nach meiner Überzeugung ein Irrweg. Denn das dramatische Geschehen findet sich in dem Genre selbst angelegt und verlangt nicht nach formalen Erweiterungen. Balladen sind weder Schauspiele noch Opern. Dennoch gab und gibt es noch immer Versuche, den Handelnden eigenen Stimmen zu geben. Eines der berühmtesten Beispiele aus den frühen Jahren der Schallplatte ist Schuberts „Erlkönig“ in einer orchestrierten Version von 1930 mit gleich drei Interpreten, enthalten in der Edition „Schubert on Record 1898-2012“, früher bei der EMI, jetzt bei Warner. Der französische Tenor Georges Thill tritt als Erzähler und Erlkönig in Erscheinung, der Bariton Henri Etcheverry als Vater und der Knabensopran Claude Pascal als das „ächzende Kind“. Mitte der achtziger Jahre sind die Bässe Kurt Moll und Harald Stamm in den Kleinen Sendesaal des damaligen SFB gegangen und haben sich mit Wilhelm von Grunelius am Klavier in die Ballade geteilt. Moll übernahm den Part des Vaters, Schramm den Rest. Nötig war das nicht.
Dem berühmten Stück wird kein zusätzlicher Aspekt zuteil, es gerät auch in dieser prominenten Interpretation zum Gag, ohne aber zur Klamotte zu verkommen. Es macht sogar Freude, den beiden gleichaltrigen Herren mit Jahrgang 1938 zuzuhören. Moll, der 2017 gestorben ist, fällt durch sein unverwechselbares samtiges Timbre auf und setzt sich gut gegen den etwas sachlichen Stamm ab. Sie haben hörbar Spaß an ihrer ungewöhnlichen Herausforderung, die sie in „Der Tod und das Mädchen“ – ebenfalls von Schubert – noch auf die Spitze treiben, indem sich Stamm stimmlich ins weibliche Geschlecht verwandelt.
Die putzigen Aufnahmen waren 2001 zunächst bei Koch / Schwann in einer Zusammenstellung als Romantic Bass Duets herausgekommen. Nun sind sie bei Profil Edition Günter Hänssler neu aufgelegt worden (PH18036). Ganz so verwegen wie der Schubert sind die Balladen „Odins Meeresritt“, „Archibald Douglas“ und „Tom der Reimer“ von Carl Loewe nicht ausgefallen, wenngleich auch sie nur für eine Solostimme komponiert wurden. Moll gilt als einer der besten Loewe-Interpreten der Neuzeit und hat die drei Stücke auch nach allen Regeln dieser Kunst separat eingespielt. In „Odins Meeresritt“ übernimmt er diesmal den größeren Part als Erzähler und als Meister Oluf, Schmied von Helgoland, der den Amboss um Mitternacht verlässt, als es plötzlich mit Macht an seine Tür pocht. Draußen steht kein Geringerer als Odin, der mitunter auch unter dem Namen Wodan (Wotan) in den verschiedensten Mythen unterwegs ist. Der verlangt nun, dass sein schwarzer Rappe, der ungeduldig mit dem Huf scharrt, neu beschlagen werde. Schließlich müsse er, der Gott, vor der Sonne zur „blutigen Schlacht“ in Norwegen sein. Oluf, von Angst befallen, staunt nicht schlecht: „Hättet Ihr Flügel, so glaubt‘ ich’s gern!“ Gesagt getan, der Schmied nimmt das Eisen zur Hand. Doch es erweist sich als zu klein für den gewaltigen Huf des Tieres, das „mit dem Wind“ läuft wie die Luftrösser der Walküren bei Wagner. „Da dehnt es sich aus.“
In dieses Wunder nun fallen Moll und Stamm gemeinsam ein. Sie verstärken es, indem sie ihre Bässe zusammenlegen. Das ist von starker Wirkung, die sich erst beim Hören einstellt und sich nicht beschreibend vermitteln lässt. Für mich, der viel übrig hat für die Balladen von Loewe, wäre allein diese Stelle die Anschaffung der CD wert. Wenngleich mir die Ballade in der traditionellen Interpretation durch eine Singstimme letztlich doch lieber ist, bestätigen beide Bassprofis mit der kühnen Ausnahme die Regel. Die Delikatesse von „Odins Meeresritt“ nach einem Text des aus dem Badischen stammenden Gelehrten und Schriftstellers Aloys Wilhelm Schreiber kann in den anderen beiden Loewe-Titeln nicht wiederholt werden. Traditionell ist das Gros des Programms: „Duette für zwei Singstimmen“ von Felix Mendelssohn Bartholdy, „Sechs Kammerduette“ von Ferdinand Hiller, „Zweistimmige Lieder“ von Anton Rubinstein, in denen Stamm fast schon mit tenoralen Tönen heraussticht, „Klänge aus Mähren“ von Antonin Dvorák, „Zwiegesänge zur Nacht“ von Emil Mattiesen sowie „Irische Volkslieder“, die in der neuen Auflage an den Schluss gesetzt sind.
Nun zur nächsten Neuerscheinung von Profil Edition Günter Hänssler, einem Doppelalbum. Als Erna Berger 1926 in Dresden unter der Obhut des Dirigenten Fritz Busch ihre ersten Erfolge feierte, war Hermann Prey noch gar nicht geboren. 1959 standen die Sopranistin, die auf die sechzig zuging und der dreißigjährige Bariton gemeinsam in Berlin im Studio, um mit dem Pianisten Günther Weissenborn für die Electrola Hugo Wolfs Italienisches Liederbuch einzuspielen. Soviel wie ich weiß, hat es diese LP bisher nicht auf CD gebracht. So wird es auch im Booklet versichert. Lediglich auf einer Prey gewidmeten Sammlung bei The Intense Media habe ich einige Lieder daraus gefunden. Deshalb ist es mehr als erfreulich, auch diese reizvolle Produktion neu auf den Markt zu bringen (PH 18029). Auch diesmal sind die Quellen penibel genannt wird. So gehört sich das. Während es dem junge Prey gegeben ist, auch stimmlich knackig zu agieren, muss die Kollegin hier und da kaschieren, um mit dem stürmischen Kollegen mitzuhalten zu können. Schließlich geht es in diesen Gesängen um Liebe, Sehnsucht, Koketterie, Prahlerei, Schwermut, Eifersucht – also um all die Gemütszustände und Gefühle, die Menschen im Frühling ihres Lebens stärker umtreiben und beanspruchen als in der Gesetztheit des herannahenden Alters, wo Erfahrung vor Torheiten schützen kann. Die Berger schlägt sich hervorragend, indem sie alle Register ihres Könnens zieht. Wo Prey mitunter etwas naiv drauflos zu singen scheint und gerade dadurch gewinnt, ist ihre Erotik, Ausstrahlung und Verführung ein gar köstliches Kunstprodukt. Sie kann wirklich singen, gibt jedem Wort, jeder Stimmung dezenten Ausdruck, übertreibt nie, umschifft technisch heikle Stellen mit dem Geschick jahrzehntelanger Erprobung und ist – im Liedgesang unverzichtbar – mit jedem Buchstaben zu verstehen. Eigenschaften, die ihr auch bei Robert Schumanns Frauenliebe und -leben sowie bei den Liedern „Auf den Flügeln des Gesangs“ und „Gruß“ von Mendelssohn zu gute kommen. Diese Aufnahmen entstanden 1956, begleitet von Ernst-Günther Scherzer ebenfalls für die Electrola.
Prey sind die verbleibenden Kapazitäten der zweiten CD vorbehalten – mit ausschließlich frühen Columbia-Einspielungen. Darunter sind auch die Vier ernsten Gesänge von Johannes Brahms, die aus dem jungen Mund weniger bitter klingen und eine Nähe zu Bach aufscheinen lassen. Mit zwei Balladen gibt es einen Bezug zur vorangegangen CD von Moll und Schramm. Diesmal waltet sogar noch Michael Raucheisen am Flügel. Hier wie dort ist „Tom der Reimer“ zu hören. „Die Uhr“, die Prey mehrfach eingespielt hat, dürfte in dieser Einspielung seine erste Auseinandersetzung mit dem Stück auf Tonträgern sein. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die alte Schelllackplatte mit 78 Umdrehungen pro Minute von Anfang der 1950er, die der Sammler Michael Seil extra für diese Edition überspielte. Dem jungen Prey kommt das Verdienst zu, die Ballade, die erheblich zum Klischee vom betulichen und verschroben Carl Loewe beigetragen hat, in ein ganz neues Licht zu setzen – nämlich als hintergründiges und musikalisch fein gestricktes Meisterwerk.
Das Wolf-Lied „Heimweh“ nach einem Gedicht von Eichendorff ist mir besonders nahe gegangen, weil sich damit auch ein persönliches Erlebnis verbindet. Der gebürtige Berliner Hermann Prey gab noch vor dem Fall der Mauer einen Liederabend im Osten der geteilten Stadt, wo er aufgewachsen ist. Als Zugabe wählte er genau dieses Lied, das von der Erinnerung an die verloren gegangenen Heimat getragen ist. Es endet mit dem pathetischen Ausruf „Grüß dich, Deutschland, aus Herzensgrund!“ Da war kein Halten mehr im Publikum. Wie ein Mann fuhr es von den Sitzen und tobte vor Begeisterung. Rüdiger Winter