Universal legt nach: Ende 2016 erschien bereits Vol. 1 der Complete Recordings on Deutsche Grammophon von Eugen Jochum. Damals waren es die 42 CDs umfassenden Orchestral Works. Nun also Vol. 2 Opera and Choral Works, eine 38 CDs starke Box (DG 4798237). Die optische Präsentation ist gelungen, stecken die Aufnahmen doch in CD-Hüllen mit den ehemaligen Original-Covers der LPs. Das freut den traditionsbewussten Sammler. Weniger angetan ist dieser hingegen von der fortgesetzten Tilgung des Philips-Labels aus dem kollektiven Gedächtnis. Tatsächlich wurde nämlich etwa die Hälfte der Chorwerke seinerzeit nicht für die DG, sondern für Philips eingespielt. Fairerweise muss man dazu sagen, dass die Hüllen, in denen die einzelnen CDs stecken, zumindest noch die originale Philips-Herkunft vermerken. Auf der Box selbst ist hiervon aber nicht die Rede.
Die Einspielungen entstanden im Zeitraum von 1952 und 1976, decken also gleichsam ein Vierteljahrhundert ab. Exakt die halbe Box, also 19 CDs, sind geistlichen Chorwerken gewidmet. Den bei weitem größten Anteil machen dabei die Kompositionen von Bach aus, von dem vier Werke enthalten sind: Neben den beiden Passionen sind dies die h-Moll-Messe und das Weihnachtsoratorium. Bereits hier werden zwei der Orchester ersichtlich, denen Jochum am engsten verbunden war, nämlich das von ihm praktisch gegründete und zwischen 1949 und 1960 geleitete Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und das Concertgebouw-Orchester Amsterdam, dem er von 1961 bis 1963 als Co-Chefdirigent neben Bernard Haitink vorstand. Die Matthäus– (1965) und Johannes-Passion (1967) wurden in Amsterdam, die Hohe Messe (1957) und das Weihnachtsoratorium (1972) in München aufgezeichnet. Anders als der breite Zeitraum erwarten lässt, ist die Klangqualität auch bereits in den frühen Stereoaufnahmen der Box erstaunlich gelungen. Jochums Bach-Stil galt schon in den 60er Jahren als angejahrt, nicht nur im Vergleich mit Nikolaus Harnoncourt, der seinerzeit erste Erfolge feierte, sondern gerade auch mit Karl Richter. Anders als bei diesem fehlen bei Jochum die Ecken und Kanten, auch wenn sich die Einspielungen grundsätzlich auf hohem Niveau bewegen und hervorragende Solisten aufzuweisen haben, darunter Lois Marshall, Hertha Töpper, Marga Höffgen, Peter Pears, Ernst Haefliger, Kim Borg und Walter Berry, um nur einige zu nennen. Am gelungensten erscheint tatsächlich das Weihnachtsoratorium, in dem Jochum ein besonders breites Zeitmaß anschlägt.
Ebenfalls für die niederländische Philips entstand 1970 zum Beethoven-Jahr die Aufnahme der Missa Solemnis. Hier nun erscheint Jochums Lesart bereits weniger auffällig, was sich bei den enthaltenen Bruckner-Werken noch fortsetzt. Was den „Unzeitgemäßen“ von St. Florian anbelangt, gilt Jochum (seit 1948 Professor) nicht zu Unrecht bis zum heutigen Tage als einer der maßgeblichsten Interpreten und war ab 1950 Präsident der deutschen Sektion der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Zu den drei Messen (entstanden zwischen 1962 und 1972 mit dem BR-Symphonieorchester) gesellen sich eine Einspielung des Psalms 150 mit den Berliner Philharmonikern (1965), zehn Motteten mit den Bayern (1966) und gar zwei Aufnahmen des Te Deum (1950 aus München und 1965 aus Berlin). Diese Chorwerke bilden eine willkommene Ergänzung zu Jochums zahllosen und zeitlosen Aufnahmen der neun Symphonien von Bruckner. Nicht zuletzt haben es auch Haydns Schöpfung und Cäcilienmesse (1966 und 1959, beide mit dem BR-Symphonieorchester) und Mozarts Requiem (1955 mit den Wiener Symphonikern) in die Kollektion geschafft. Bei letzterem hat man sich auf einer zusätzlichen CD gar für die Inkludierung der gesamten Messe im Wiener Stephansdom entschieden, was die neun Extra-Tracks erklärt. Die Mono-Aufnahme vom Dezember 1955, kurz vor dem 200. Geburtstag Mozarts, hat freilich mittlerweile eher eine historische Bedeutung, als dass sie heute angesichts zahlreicher besser klingender Alternativen künstlerisch noch tonangebend wäre.
Schließlich wird bei den Chorwerken auch dem Rang Jochums als berühmter Orff-Dirigent genüge getan. Neben den Carmina Burana und den Catulli Carmina, die jeweils zweifach vorliegen (aus den 50er Jahren in Mono und von 1967 bzw. 1970 in Stereo), ist das Trionfo di Afrodite berücksichtigt (1955). In den frühen Aufnahmen bediente sich Jochum seines Klangkörpers aus München, während er für die späteren (etwas ungewöhnlich) auf das Orchester der Deutschen Oper Berlin zurückgriff, was indes als Volltreffer bezeichnet werden muss. Besonders die Neuauflage der Carmina Burana zählt nicht ohne Grund nach wie vor zu den Referenzaufnahmen und liegt seit langem in der DG-Serie „The Originals“ vor. Besetzungstechnisch ist diese Einspielung mit Gundula Janowitz, Gerhard Stolze und Dietrich Fischer-Dieskau auch schwer zu toppen und wurde seinerzeit von Carl Orff selbst autorisiert.
Den zweiten großen Themenblock der Box bilden die Operneinspielungen. Am berühmtesten ist darunter vermutlich Jochums 1962er Aufnahme von Mozarts Cosí fan tutte, die vielfach als die herausragendste Interpretation dieses lange verkannten und noch immer etwas im Schatten stehenden Werkes betrachtet wird. Ein exzellentes Solistenensemble (darunter Irmgard Seefried, Erika Köth, Ernst Haefliger, Hermann Prey und Dietrich Fischer-Dieskau) und die hier besonders gut aufgelegten Berliner Philharmoniker tragen auch nach einem halben Jahrhundert nachhaltig zu diesem Eindruck bei. Ein weiteres Beispiel für den großen Mozart-Interpreten Jochum beinhaltet die Neuerscheinung mit seiner Entführung aus dem Serail. 1965 in München eingespielt, sticht unter den Sängern besonders der legendäre Fritz Wunderlich heraus. Gleichwohl ist die Konkurrenz hier größer, auch wenn diese Aufnahme gut neben den berühmten Aufnahmen von Ferenc Fricsay, Sir Thomas Beecham, Josef Krips und Karl Böhm bestehen kann. Einen Trumpf hat Jochum abermals mit Wunderlichs Belmonte auszuspielen, aber auch Kurt Böhme ist als Osmin voll in seinem Element. Dagegen ist verschmerzbar, dass die weibliche Besetzung (Erika Köth und Lotte Schädle) dieses höchste Niveau nicht ganz erreicht. Dafür konnte mit Rolf Boysen ein luxuriöser Bassa Selim verpflichtet werden.
Ein treffliches Beispiel dafür, dass das Bessere des Guten Feind ist, liefert Jochums 1959 mit den Bayern entstandene Gesamtaufnahme von Webers Freischütz. Gleichsam seit Ersterscheinung steht diese im Schatten der kurz zuvor für EMI eingespielten Aufnahme von Joseph Keilberth, obwohl Jochum gerade bei den männlichen Solisten auf erstklassige Kräfte zurückgreifen kann, unter denen besonders wiederum Kurt Böhme sowie Eberhard Waechter zu nennen sind. Mit dem bekannten Schauspieler Ernst Ginsberg stand ihm zudem ein besonders dämonischer Samiel zur Verfügung. Da aber die weiblichen Interpretinnen (Irmgard Seefried nicht ganz auf der Höhe) etwas abfallen, läuft diese Aufnahme bis heute eher unter ferner liefen. Der letzte auf dieser Box vertretene Bereich betriff die Opern von Richard Wagner. Tatsächlich gibt es hier die größte Überraschung der gesamten Kollektion: Der 1952 mit dem Symphonieorchester des BR eingespielte, heute fast vergessene Lohengrin, der nunmehr endlich seine CD-Erstveröffentlichung erfährt. Das legendäre Münchner Ensemble wurde hier festgehalten: Neben dem sträflich vernachlässigten Lorenz Fehenberger in der Titelrolle wirken Annelies Kupper, Helena Braun, Ferdinand Frantz, Otto von Rohr und Hans Braun mit. Die Aufnahme, die in den 50er Jahren zeitweilig wohl durchaus als Standardempfehlung gelten konnte, wurde Opfer der fortschreitenden Tontechnik. Bereits wenige Jahre nach ihrer Fertigstellung wurde sie von der Stereophonie überholt. Spätestens in den 60er Jahren machten sie die neuen Aufnahmen von Rudolf Kempe, Wolfgang Sawallisch und Erich Leinsdorf gewissermaßen obsolet. Zu Unrecht. Dass Eugen Jochum nämlich ein großartiger Wagner-Exeget war, ist Bayreuth-Kennern seit langem geläufig. Zwischen 1953 und 1973 (wenn auch mit einer großen Lücke zwischen 1954 und 1971) verantwortete er Anfang der 50er zunächst die Produktionen von Tristan, Lohengrin und einmalig Tannhäuser sowie Anfang der 70er auch Parsifal, der damals noch in der legendären Inszenierung von Wieland Wagner lief.
Die späteste hier inkludierte Einspielung ist die Meistersinger-Aufnahme von 1976, die heute wohl breitenwirksamste Wagner-Einspielung Jochums und besser als ihr Ruf. Sie gilt seither gleichwohl nämlich eher als Geheimtipp, ist ihre Besetzung doch etwas uneinheitlich geraten. Plácido Domingos Walther überzeugt zwar stimmlich, doch ist seine deutsche Diktion (wieder einmal) mangelhaft. Dietrich Fischer-Dieskau gibt einen Nationalpoeten erster Güte und bietet die Monologe beinahe kunstliedhaft dar. Dumm nur, dass Hans Sachs eben auch Schuster ist. Die restliche Besetzung ist an und für sich sehr adäquat (Catarina Ligendza, Christa Ludwig, Horst Laubenthal, Peter Lagger und Roland Hermann). Als wirklich ausgezeichnet muss das Dirigat gelten. Zuletzt ist eine als „Erzähltes Leben“ betitelte Bonus-CD (1962) beigegeben, welche die Box beschließt und abrundet. Hier berichtet der im barock-süddeutschen Katholizismus aufgewachsene und stets bescheiden gebliebene Jochum aus seinem Leben. Vor diesem Hintergrund ist auch seine innige Hinwendung zur Kirchenmusik und zur Sinfonik Bruckners zu verstehen. Zudem wird die große musikalische Bandbreite Jochums deutlich, die von der Alten Musik über Mozart und Wagner bis zur zeitgenössischen Musik ging. Zuletzt erleben wir den Organisten Eugen Jochum mit einem Arrangement von „Ganz Paris träumt von der Liebe“ von Cole Porter.
Als insgesamt runde Sache kann dieses Vol. 2 also durchaus gelten, vereint es doch das künstlerische Schaffen des Dirigenten Eugen Jochum im Vokalbereich auf kompaktem Raum und in ansprechender Darbietung. Daniel Hauser
Das große Bild oben ist ein eingefärbter Ausschnitt des Fotos auf der Box. Es stammt von Werner Neumeister.