Es klingt wie eine Botschaft aus einer versunkenen Zeit. „Mi batte il cor … O Paradiso!“ Vor allem dann, wenn Caruso den Vasco da Gama in Meyerbeers Oper L’Africaine singt. Die Arie ist die Erkennungsmelodie einer Fernsehserie, in der Regisseur und Produzent Jan Schmidt-Garre den Erinnerungen an legendäre Tenöre der Schellackzeit (Belcanto – The Tenors of the 78 Era) nachspürt: Neben Enrico Caruso sind das John McCormack, Leo Slezak, Tito Schipa, Richard Tauber, Lauritz Melchior, Beniamino Gigli, Georges Thill, Helge Rosvaenge, Ivan Kozlovsky, Joseph Schmidt und Jussi Björling. Jedem Sänger ist eine Folge gewidmet, die bis auf zwei Ausnahmen mit der Vasco-Arie in der Interpretation des jeweiligen Tenors beginnt – ob nun auf Italienisch, Französisch oder auf Deutsch.
Eine zusätzliche Folge, nämlich die dreizehnte, ist als „Dialogue with Eternity“ angelegt. Das passt. Jürgen Kesting findet passende Worte: „Wenn ein Sänger einen hohen Ton oder schönen Ton lange hält, vergess’ ich die Zeit, vergesse sogar, dass er vielleicht eine Spur über den Rhythmus hinausgeht. Der selige Augenblick ist da. Wenn ich das auf der Schallplatte zum zweiten, zum dritten, zum vierten Mal höre, wird aus dem Affekt ein Effekt.“ Der Stimmenexperte und Kritiker, der ein mehrbändiges Werk über Sänger verfasst hat, kommt in allen Folgen zu Wort – erklärt, deutet, doziert, ordnet ein, wägt ab, spielt vor und genießt selbst. Er weiß, wovon er redet und ist ganz in seinem Element. Sein leiser und vornehmer Enthusiasmus ist ansteckend. Mit seinem Wissen und seiner distinguierten Art des Vortrags, hat er beträchtlichen Anteil am Gehalt und an der Wirkung dieser über weite Strecken sehr sinnlichen Dokumentation, in der auch viele andere internationale Experten und Zeitzeugen zu Wort kommen. Mitunter auf rührende Weise und in skurrilen Gesprächskreisen. Doch keine Angst, die Filme schwelgen nicht in der guten alten Zeit. Und sollte auch so nicht verstandnen werden. Als wesentlich empfand ich, dass dem Sinn und den Möglichkeiten des Singens nachgespürt wird, auch im jeweiligen historischen Kontext. Was gesagt wird, wird mit vielen Ton- und Filmausschnitten belegt, wenigsten aber begründet. Wer also wissen will, wozu die menschliche Stimme an Technik und Ausdruck fähig ist, wird es am Ende erfahren haben. Nach der Erstsendung – inzwischen gab es etliche Wiederholungen – kamen die dreizehn Teile mit jeweils einer halben Stunde Länge in zwei Boxen erstmals bei medici arts auf DVD heraus und dürften Eingang in viele Sammlungen gefunden haben.
Nun greift Naxos die Dokumentation wieder auf (2.110389-91). Mit deutlich erweitertem Umfang. Ein kräftiger Anreiz muss schon sein, um die Serie erneut unter die Leute bringen zu wollen. Im äußeren Erscheinungsbild kommt dies allerdings nicht zur Geltung. Der Mehrwert der Box hätte stärker betont werden müssen. Es spricht einiges dafür, die alte Ausgabe durch eine Neuanschaffung zu ersetzen. Warum? Den originalen Teilen ist jetzt ein Album mit den behandelten Arien beigelegt, das es bisher nur gesondert gab. Darauf auch die Arie mit Caruso. Seine Spielzeit beträgt 154 Minuten. Zudem werden Filmausschnitte, die in die Dokumentation eingegangen sind, nochmals gesondert auf einer DVD zusammengefasst. Auf einer weiteren DVD, die als Bonus ausgewiesen ist, sind der Italiener Tito Schipa, die Österreicher Joseph Schmidt und Richard Tauber sowie der Russe Ivan Kozlovsky zu sehen und zu hören. Schipa singt in Kostüm und Kulisse unter anderen den Lyonel im Flotows Martha, Schmidt ist in zwei seiner Filme – „Wenn du jung bist gehört dir die Welt“ und „Ein Stern fällt vom Himmel“ zu sehen. Und Tauber begleitet sich selbst am Klavier mit einer eigenen Komposition und bei dem Lied „Once There Lived a Lady Fair“ von George H. Clutsam. Stalinistisch gefärbte Zeitgeschichte flammt auf, wenn Kozlovsky vor Bergarbeitern einer Zeche unter dem Bild des Diktators seinem verschwenderischen Tenor freien Lauf lässt. Stalin schätze seine Stimme und soll ihm Gastspiele im Westen aus Sorge verwehrt haben, er könne nicht in die Sowjetunion zurückkehren.
Ein Heft mit diversen Essays rundet das Angebot ab. Darunter befindet sich in englischer Übersetzung auch der Text des Buches „Die Krise der Gesangskunst“ von Wolf Rosenberg, das seit vielen Jahren vergriffen ist und antiquarisch hoch gehandelt wird. Rosenbergs kritischer Befund endet zwar schon im Jahr 1968, seine hohen Ansprüche aber wirken fort. Im deutschen Original heisst es: „Das Extrem, auf das in der letzten Zeit hingesteuert wird, ist ein Kult mit Stimmen, wie er nie zuvor möglich war. Die Forderungen gehen allein ans Material; man spricht nur noch von der Kehle, vom Gold, Silber, Metall oder was sonst in ihr stecken möge, nicht aber vom Blei auf der Zunge, das undeutliche Deklamation, Schwere und Unreinheit des Ansatzes sopwie Mangel an Geläufigkeit zur Folge hat; nicht vom Holz in der Linienführung, wo solche überhaupt noch angestrebt wird, und nicht von den übrigen Metaphern, mit denen man bereits zur Konvention gewordene Unarten belegen könnte.“ All dies habe dazu geführt, dass der „Unterschied zwischen einem Stimmbesitzer und einem Sänger weiterhin unbekannt“ sei, dass „jeder italienische fortissimo-Tenor, gleich ob er singen kann oder nicht, ein zweiter Caruso genannt wird“. Rüdiger Winter
Das Foto oben aus dem Booklet der dreizehnteiligen Dokumentation „The Tenors of the 78 Era“ zeigt Beniamino Gigli als Herzog in Verdis Oper Rigoletto. Dem italienischen Sänger ist eine Folge gewidmet.