Er war die Eröffnungspremiere der Dresdner Staatsoperette im Dezember 2016 im neuen Haus der Dresdner Staatsoperette und er könnte der Erste in einer neuen Reihe ihrer Veröffentlichungen sein: Orpheus in der Unterwelt von Jacques Offenbach, dem bereits ein zweiter Band in ähnlicher Aufmachung mit dem über Bernsteins Wonderful Town folgte. „…was Musik bewirken kann.“ ist der Titel des Buches, und es bezeichnet sich als „Eine Werkmonographie in Texten und Dokumenten“, zu der Intendant Wolfgang Schaller das Vorwort schrieb und für die Heiko Cullmann und Michael Heinemann verantwortlich sind.
Verschiedene Autoren äußern sich zu sehr unterschiedlichen Themen, mal dicht am Sujet und umfassend wie Peter Hawig, dessen Kapitel so auch mit dem Werksnamen betitelt ist, mal weit abschweifend in die Operetten- oder auch Musikliebhaber nicht besonders interessierenden Sphären wie Ulrike J. Sienknecht mit einem auf die falsche Fährte führenden „Zahme Tiere“, eher allgemein wie Dieter David Scholz über den „Beginn eines Genres“, mal sehr speziell wie Jean-Christophe Kecks Ausführungen über ein verlorenes und wiedergefundenes Neptun-Ballett, das zeitweilig zum Stück gehörte. Die meiste Fleißarbeit dürfte in der tabellarischen Gegenüberstellung von vier Fassungen der Operette stecken, die ähnlich wie der Hoffmann oftmals bearbeitet wurde. Das Bildmaterial besteht aus historischen Aufnahmen aus dem Zweiten Kaiserreich, das ebenso parodiert wurde wie die damals jedem halbwegs Gebildeten vertrauten Mythen der alten Griechen.
Zu Beginn werden Handlung und Besetzung der beiden Fassungen von 1858 und 1874 einander gegenübergestellt. Dieter David Scholz verfolgt die Veroperung des Orpheus-Stoffes durch die Musikgeschichte, klärt den Gattungsbegriff opéra bouffon und beschreibt die schwierige Lage der Offenbach-Philologie. Er erklärt den Orpheus zum Modell der Mythentravestie (Gluck-Parodie!), schildert Offenbach als Theatergründer und charakterisiert dessen musikalische Schöpfungen. Peter Hawig vermittelt dem Leser, wie viele Orpheus-Opern und Parodien dazu es bereits vor Offenbach gab. Manchmal überschneiden sich die Inhalte der Autoren, was den Wert des Buchs nicht mindert, denn jeder von ihnen weiß interessante Aspekte aufzugreifen. So werden in diesem Artikel Operette und Offenbachiade einander gegenübergestellt und die „Zutaten“ zu Letzterer erläutert. Erfrischend ist die eindeutige Stellungnahme zur heutigen Aufführungspraxis, wenn von einem „Prokrustesbett eines flegelhaften Regietheaters“ die Rede ist.
Autor Keck ist nicht nur der Interpret, sondern offensichtlich auch der Besitzer des lange Zeit verschollen gewesenen Ballett-Aktes aus dem Reich des Neptun, gefunden in einer zweibändigen Partitur, die auf einem Dachboden lagerte. Interessant ist, dass daraus die sogenannte Spiegel-Arie stammt. Über die „moralische und ästhetische Ambivalenz“ der Offenbachschen Höllenmusik, ja der gesamten Gattung, referiert Stefan Frey, der den berühmten Galopp, mit dem es ab in das Inferno geht, als „dies irae verdrängter Begierden“ apostrophiert. Sehr interessant ist der Beitrag von Ludger Udolph über Orpheus in der Kunst der 19. Jahrhunderts, wobei Novalis mit seinen Hymnen an die Nacht und dem Roman Heinrich von Ofterdingen“eine bedeutende Rolle spielt. Äußerst erhellend ist auch die Tatsache, welche Rolle für Goethe und seine Zeitgenossen die Vokabel „orphisch“ spielte, die dem „Apollinischen“ zugeordnet wurde, dem Gegenpol zum Dionysischen. Es fehlen auch nicht Hinweise auf Vertonungen des Orpheusstoffes, sogar wenig bekannter, und auf Parodien, sogar ein pornographisches russisches Ballett.
Philosophisch, psychologisch, soziologisch und noch vieles andere einschließlich polemisch wird es mit dem Beitrag von der bereits erwähnten Ulrike J. Sienknecht, von der unter anderem der Satz „An die Betroffenheit und wieder weg von ihr!“ im Gedächtnis bleibt. Der arglose Operettenfreund dürfte damit wenig anfangen können.
Handfester und damit besser verdaulich und erbaulich wird es wieder mit Stefan Heinemanns Beitrag über die Öffentliche Meinung, Ersatz für den Chor in antiker Dichtung, die durchaus, auch mit Hinweis auf Kachelmann und Wulff, kritisch gesehen wird, auch weil sie von den Mächtigen manipuliert werde.
Dokumente zur sogenannten Janin-Affaire, Offenbach nutzte die scharfe Kritik, um sein Werk ins Gespräch und damit zum Erfolg zu bringen, bilden vor dem Vergleich der vier Fassungen den Schluss des vielseitigen Buches, das viele interessante Themen und Sichtweisen in sich vereint (Staatsoperette Dresden 2016; ISBN 978 3 945363 55 3). Ingrid Wanja