Alte Musik und junger Fritz Wunderlich: Was auf den ersten Blick wie ein Gegensatz erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen und -hören als eine glückliche Verbindung. Sie hat Nachaltiges auf Tonträgern hinterlassen. Seine Anfänge sind tief verwurzelt in Kompositionen der Vorgänger von Johann Sebastian Bach. Musik vor Bach nennt denn auch SWR Music das neueste, Fritz Wunderlich gewidmete Doppelalbum, mit dem eine Edition in lockerer Folge fortgesetzt wird (SWR19051CD). Von Mal zu Mal entwickelt sich diese Reihe, die durch schöne Porträtfotos in mattem Schwarzweiß auffällt, zu einer unverzichtbaren Quelle der neuerlichen Beschäftigung mit diesem Tenor mehr als fünf Jahrzehnte nach seinem Tod. Wunderlich starb am 17. September 1966 an den Folgen eines Treppensturzes. Er hatte gerade seinen sechsunddreißigsten Geburtstag hinter sich.
Nicht, dass die jetzt vorgelegten Titel völlig unbekannt wären. Das sind sie nicht. Sie kursieren seit Jahren in diversen Sammlungen. Auch SWR Music hatte – mal gemeinsam mit Hänssler Classic, mal allein – bereits vor Jahren derartige Stücke veröffentlicht. Nun wird dieser Bestand durch ein neues Remastering der originalen Archivbänder ausgestochen. Das ist ein unschlagbarer Marktvorteil, der gleich dem Cover wie mit einem Stempel aufgedrückt wird: Original SWR Tapes Remastered. Gut und richtig so. Labels und Firmen, die diese Aufnahmen zuerst herausbrachten, haben das Nachsehen. Manchmal bestraft das Leben auch jene, der zu früh kommen. Musik bleibt von den Gesetzen der Marktwirtschaft nicht verschont. Das Bessere ist des Guten Feind. Wunderlich klang auch aus dubiosen Quellen oder von privaten Spulenbändern, auf denen seine Enthusiasten Radiosendungen mitgeschnitten haben, immer ganz passabel – nie muffig. Zu seiner Zeit entwickelte sich die entsprechende Technik auch für den Hausgebrauch rasch. Im Westen war sie Teil des deutschen Wirtschaftwunders. Jetzt klingt Wunderlich eben noch ein bisschen besser, frischer und dadurch womöglich auch authentischer.
Wunderlich stammt aus Kusel in Rheinland-Pfalz. „Ein Städtchen liegt im Pfälzerland, / im Tal, so wunderschön. / Dort ist’s, wo meine Wiege stand, / wohin meine Träume geh’n.“ So beginnt das Lied, das er seiner Heimatstadt gedichtet und komponiert hat. Nie hat er seine Herkunft verleugnet. Sie war für ihn existenziell. Er hatte die liebliche Landschaft in der Stimme. Im Südwestrundfunk, der auch für dieses Sendegebiet zuständig ist, nahm seine Karriere ihren Anfang. Dort wurde sein Talent früh erkannt. Er bekam viele Chancen, die er zu ergreifen wusste. Der Hörfunk hat erheblichen Anteil an seiner künstlerischen Entwicklung und an seiner Popularität. Das kann nicht oft genug herausgestellt werden, weil es das so nicht mehr gibt. Verantwortliche handelten weitsichtig. Die Archive sind voll. Das der Sendeanstalt nahestehende Label SWR Music braucht also nur zuzugreifen. Und tut es. Es wäre wünschenswert, würden auch andere Sender so phantasiereich und großzügig mit ihrem Erbe umgehen. Freilich hatte aber nicht jeder so ein attraktives Zugpferd im Stall wie Wunderlich.
Musik vor Bach also. Im Album tauchen neben Heinrich Schütz, Dietrich Buxtehude oder Christoph Graupner Namen von Komponisten auf, die erst jetzt dank der verstärkten Hinwendung zu dieser musikalischen Epoche neu entdeckt werden als bedeutende Meister ihrer Zeit: Ludwig Senfl (1486-1543) zum Beispiel, dann Paul Hofhaimer (1459-1537), Adam von Fulda (1619-1884) oder Adam Rener (1482-1520). Dass sich Wunderlich bereits in den fünfziger Jahren mit ihnen befasst hat, ist kein Zufall. Wie Textautor Lothar Brandt im deutsch und englisch gehaltenen Booklet berichtet, spielt in diesem Zusammenhang der Direktor der Freiberger Musikhochschule Gustav Scheck die entscheidende Rolle. Er hatte den Studenten in seinen Freiburger Musikkreis für Alte Musik geholt. In der Folge wurde Wunderlich zu Aufnahmen von Werken von Schütz und Monteverdi für den Schulfunk in das Freiburger Landesstudio des damaligen Südwestfunks eingeladen. Obwohl sich der junge Tenor letztlich für die Opernlaufbahn entschied, ist er zumindest der Barockmusik immer treu geblieben. Und es ist von starker symbolischer Wirkung, dass seine erste offizielle Operneinspielung Monteverdis Orfeo (bei DGA) – er sang gleich mehrere kleine Rollen – gewesen ist, die seither immer wieder neu aufgelegt wurde. Doch mit solchem Repertoire wäre zu seiner Zeit keine Weltkarriere denkbar gewesen.
Anhand des SWR-Albums muss die Lebensleistung von Wunderlich nicht neu bewertet werden. Es regt aber dazu an, den frühen Aufnahmen einen höheren Stellenwert einzuräumen. Für mich gehören sie zum Schönsten, was er hinterließ. Sie sind viel mehr als nur die Ahnung seiner späten Meisterschaft wie sie beispielsweise im Lied von der Erde (EMI), in der Zauberflöte, der Schönen Müllerin oder im Weihnachtsoratorium (Deutsche Grammophon Archiv) zum Ausdruck kommt. Am Anfang wirkt Wunderlich an keiner Stelle kalkuliert und einstudiert. Es singt fast überbordend aus ihm heraus. Auch wenn Unschuld kein belastbarer Begriff ist, um Stimmen zu charakterisieren, für diese Aufnahmen fällt mir nichts anderes ein. Wunderlich war erst vierundzwanzig, als er 1954 die sechs Lieder von Senfl einspielte. Sie zählen zu seinen frühesten Aufnahmen. Wer sich darauf einlässt, gewinnt eine Vorstellung von den Urquellen der Musik. Alles kommt von dort. Die Lieder sind durch Schlichtheit Meisterwerke. Sie sind in meinen Ohren der vollkommenste Ausdruck dieser Stimme, die im Kern immer eine Naturstimme war. Bis zum Schluss. Sein früher Tod hat den Sänger davor bewahrt, mit technischen Mitteln auszugleichen, was die einzigartige Begabung im Laufe der Jahre womöglich nicht hätte durchhalten können. Alle Titel sind genauestens mit Daten und Ort der Produktion dokumentiert. Man muss aber genau hinsehen, um das Kleingedruckte entziffern zu können. Gesunde Augen sind Voraussetzung. Anderenfalls sollte eine Lupe griffbereit liegen. Es hätte sich besser gemacht, wären gleich die einzelnen Tracks mit diesen wichtigen Angaben in einer vernünftigen Schriftgröße versehen worden. Damit hat sich der einzige Kritikpunkt erledigt. Alles andere verdient Lob.
Im Regal wird diese Reihe mit SWR-Produktionen von Fritz Wunderlich immer länger: Klassische Arien (SWR19048CD), Romantische Arien (SWR9032CD) und Operetten-Arien (SWR19038CD). Die Titel sind nicht sonderlich originell. Potenzielle Kunden wissen schon, was gemeint ist. Sie dürften sich ohnehin am Inhalt orientieren, was sich nicht immer als ganz einfach erweist. Welche Titel sind neu? Eine genaue Recherche wird zur abendfüllenden Beschäftigung. Ich bin bei dem Versuch so gut wie gescheitert, herauszufinden, wann und wo etwas schon einmal erschienen ist. Dazu hätten auch alten Platten herangezogen werden müssen. Es werden aber auch Chancen verpasst. Im Doppelalbum mit den klassischen Arien erscheinen lediglich zwei Szenen aus Schuberts Oper Fierrabras, obwohl es davon eine erheblich gekürzte Gesamtaufnahme gibt. Aus den kompletten Jahreszeiten von Haydn, die SWR Classic noch gemeinsam mit Hänssler herausgeben hatte, werden ohne Not nun vierzehn Nummern herausgelöst. Schade, dass die Wunderinsel von Schubert bzw. nach Schubert nur bruchstückhaft wiedergeben wird, zumal die Produktion ein ganz besonders spannendes Kapitel Rundfunksgeschichte ist, mit dem sich hätte punkten lassen. Es gibt das Stück eigentlich nicht. Den Angaben im Booklet zufolge hatte sich der Musikwissenschaftler und Journalist Kurt Homolka (1913-1988) die Musik von Alfonso und Estrella sowie anderer Schubert-Opern wie der Zauberharfe „geborgt“, um William Shakespeares „Sturm““zu vertonen. „Schuberts Partitur(en) unterwarf er dabei Umstellungen, Kürzungen, Modifikationen und schrieb vielleicht auch einige Überleitungen.“ Die Wunderinsel sei am 26. Januar 1958 im Staatstheater Stuttgart aufgeführt und Ende November vom SWR eingespielt worden. Dabei habe Wunderlich den Ferdinand gesungen. Nachaufnahmen habe es am 26. Februar des nächsten Jahres ohne Wunderlich gegeben, wobei nicht erwähnt wird, ob dabei auch Ferdinand-Szenen berührt gewesen sind. Diese seien jetzt „teilweise zum ersten Mal auf Tonträger“ zu erleben. Das ist sehr frei formuliert. In Wahrheit sind mehr als elf von jetzt ungefähr siebzehn Minuten Musik, die neugierig auf mehr machen, bereits in einer Edition von Intense Media veröffentlicht worden.
Die CD mit den romantischen Arien zeigt Fritz Wunderlich ganz in seinem Element. Als bade er in der Musik. Deutsches und Italienisches mischen sich. Auch sprachlich. „La Donna è mobile“, die Arie des Herzogs aus Rigoletto, singt er im Original wie ein Capri-Lied. Cavaradossis „Und es blitzten die Sterne“ aus Tosca verwechselt er mit Lehár. Er kann nicht anders. „Zu Straßburg auf der Schanz“ aus Wilhelm Kinzls Kuhreigen aber ist mit Gänsehautgarantie versehen. Fentons Arie „Horch die Lerche singt im Hain“ aus den Lustigen Weibern von Windsor entstand 1959 und damit vier Jahre vor der Gesamtaufnahme. Sie ist ausschweifender und freier angelegt, weil sie sich nicht in die Dramaturgie der kompletten Oper einfügen muss. Gemeinsam mit Kurt Böhme gibt es „Mein Sohn, sei Allahs Friede hier auf Erden aus“ dem Barbier von Bagdad von Cornelius und „Komm mein Söhnchen auf ein Wort“ aus der Verkauften Braut von Smetana.
Mit dem Wolgalied aus Lehárs Zarewitsch beginnt das Operettenalbum. Schlag auf Schlag folgen Zugnummern aus der Spätzeit des Genres. Was musikalisch etwas dünn geraten ist, poliert Wunderlich mit dem Glanz seiner Stimme auf. Er wirkt zeitlos wie kaum ein anderer. Zugleich aber bewahren seine vielen Aufnahmen den Geist der Zeit, in der er von Erfolg zu Erfolg eilte. Wunderlich kann singen, was er will – Oper, Lied, Oratorium, Operette, Schlager – er weiß zu gefallen. Er war der so genannten leichten Muse sehr zugetan, wie dem Album Schlager aus den 50er zu entnehmen ist. In jungen Jahren spielte er in einer Band. Es scheint, als habe er dieses Genre stilistisch auch in seinen späten großen Opernpartien verankert. Die hellen, strahlende Töne, die Unverstelltheit und Aufrichtigkeit des Ausdrucks finden sich hier wie da. Wunderlich ist immer Wunderlich.
Original SWR Tapes remasterd: Was geschieht hinter den Kulissen, bevor ein Album in den Handel kommt? „Federführend bei der technischen Betreuung der originalen Bänder auf ihrem Weg vom Archiv über das Studio bis zum fertigen Master für die CD-Veröffentlichung sind die Tonmeister Gabriele Starke und der Ingenieur Boris Kellenbenz“, heißt es in einem Beitrag, der sich in allen Alben findet. Sie kommen auch selbst zu Wort: Die einzelnen Stücke würden je nach Notwendigkeit entrauscht, gefiltert und im Lautheitseindruck einander angepasst, Pausen nach musikalischen Gesichtspunkten dimensioniert. „Störende Geräusche wie Knacker, Knarzen, Husten und Trittschall werden mit Hilfe von speziellen elektronischen Mitteln gedämpft und entfernt.“ Nicht genug. Die Tonmeisterin prüfe anhand der Partituren der Originalvorlage die Aufnahmen. „Falls nötig, werden einzelne Töne oder sehr kurze Passagen musikalisch korrigiert.“ Schließlich arbeiteten die Experten nach „aufwendiger Recherche alle Informationen wie Komponisten, Satzbezeichnung, Künstler etc. als Metadaten in die Trackmarker“ ein. Einen entsprechenden Player vorausgesetzt, werden diese Wasserzeichen als CD-Text beim Absielen angezeigt. Fortsetzung erwünscht. Rüdiger Winter
Foto oben: Cover-Ausschnitt des Fritz-Wunderlich-Albums Musik vor Bach bei SWR Music.