Es herrscht kein Mangel an CDs mit Barock-Arien und besonders Händel stellt einen Mittelpunkt dieses Universums dar, um den Sänger regelmäßig kreisen. Auch Franco Fagioli gesellt sich nun hinzu. Seine neue CD heißt Handel Arias (ohne Umlaut). Die Auswahl mag manche aufgrund ihrer Vorhersehbarkeit überraschen, zu hören sind zwöf Arien aus neun Opern, darunter viele bekannte und quasi kanonische Stücke, die bereits vielfach eingespielt wurden und eine gewisse Bekanntheit bzw. sogar hohe Wiedererkennbarkeit besitzen. Arien u.a. aus Rinaldo, Julius Cäsar, Ariodante und Serse findet man in der Hitparade des Händel-Repertoires auf den vorderen Plätzen der Popularität – eine gewisse Skepsis scheint beim Programm also angebracht. Diese Zusammenstellung hat allerdings ihre Ursache jenseits von Beliebtheit und Beliebigkeit. Fagioli beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesen Werken, er hat sie auf der Bühne gesungen und dargestellt und nach eigener Aussage eine enge Beziehung zu Händels Musik – es ging ihm um Arien, mit denen er „persönliche Gänsehaut-Erlebnisse verbinde“. Diese Zusammenstellung funktioniert, weil Fagioli einen langjährigen persönlichen Zugang zu dieser Musik hat und sie hochemotional und in seiner ganz eigenen Manier interpretiert. Fagioli kann sich das leisten, er hat 2013/14 zwei herausragende und maßstabsetzende Ariensammlungen beim Label Naïve eingespielt. Die Arien für Caffarelli und die CD mit Arien von Il maestro Porpora konzentrierten sich auf Raritäten, an die sich wenige wagen, sein Rossini-Album bei DG war ebenfalls ein Wagnis. Nun einen vordergründig routinierten Hitparadenquerschnitt zu präsentieren, ist eine ergänzende Positionsbestimmung – Händel war fällig.
Ob man Fagiolis Stimmfarbe mag, ist eine persönliche Vorliebe, sein ganz eigenes viril-gutturales Timbre hat in den vergangenen Jahren in der Tiefe an Fundament hinzu gewonnen, die Höhe hat er gehalten – sein Stimmumfang ist eines seiner Markenzeichen, den er auch hier zum Einsatz bringt, bspw. in der Wutarie „Crude furie degli orridi abissi“ aus Serse, in der Fagioli z.B. die männliche Tiefenlage seiner Stimme einsetzt. Unverwechselbar ist Fagiolis Koloratur- und Verzierungstechnik, die ihn zu einem Live-Erlebnis macht. Wer – wie der Verfasser dieser Zeilen – Fagioli über ein Jahrzehnt lang in verschiedenen Opern und bei verschiedenen Konzerten live erlebt hat, der kennt die unglaubliche Rasanz und Stimmartistik, mit der der Argentinier bravourös und vor allem nahtlos fließend durch die schwierigsten Tonkaskaden manövriert und beim Zuhörer Glücksschwindel auslöst. Die Bravourarie „Agitato da fiere tempeste“ stammt aus Riccardo Primo (1727, gesungen von Senesino) und wurde im Pasticcio Oreste (1734, dargeboten von Carestini) mit einer neuen zweiten Strophe wiederverwertet. Fagioli entschied sich für die zweite Version. Für diese Arie kann man beispielhaft Vergleiche heranziehen und sich ein Bild von dem machen, das Fagioli stimmlich aktuell von anderen Countertenören unterscheidet: Philippe Jarrousky präsentierte die erste Fassung auf seiner gerade erst im Herbst 2017 erschienen CD The Händel Album (mit Umlaut), Bejun Mehta bspw. 2010 auf seiner CD Ombra cara – beide singen die Arie beeindruckend gut, doch beide wirken stimmlich weniger breitbrüstig als der Argentinier. Weitere gelungene Beispiele von Fagiolis Fähigkeiten sind „Venti, turbini, prestate“ aus Rinaldo und „Sento brillar nel sen“ aus Il Pastor Fido und „Dopo notte, altra e funesta“ aus Ariodante. Bei Händel kann Fagioli nun noch eine andere Stärke ausspielen: den emotionalen Ausdruck, die Verinnerlichung, die er selbst dort erzeugt, wo andere nur mechanisch Koloratur produzieren. Bestes Beispiel dafür sind die fast schon abgedroschen wirkenden „Cara sposa, amante cara“ aus Rinaldo und „Ombra mai fu“ aus Serse oder auch „Pompe vane di morte … Dove sei amato bene“ aus Rodelinda sowie aus Imeneo „Se potessero i sospir‘ miei“ (auch diese Arie hat Jaroussky auf seiner letzten CD eingespielt) und „Se in fiorito ameno prato“ aus Giulio Cesare. Fagioli gelingt es, dass man Vorbehalte schnell aufgibt. Wie er den Ausdruck modelliert, weiche und weite Legatobögen erklingen lässt, Nuancen vermittelt und den Klang zum Schweben bringt, das ist große Stimmkunst. Der Abschluss der CD ist kein Bravourstück. Arsaces „Ch’io parta?“ (aus Partenope, eine Oper, die Fagioli noch nicht auf der Bühne sang) lässt die CD voller Wehmut in einen Abschied münden. Auf das Wiedersehen und -hören darf man sich freuen. Begleitet wird Fagioli von Il pomo d’oro, das von der Konzertmeisterin Zefira Valova an der Violine geleitet wird, wobei Fagioli auf dieser CD auch selber dirigiert hat, wie ein Foto im Booklet zeigt. In einem Interview erklärte Fagioli: „Ich sehe mich als Musiker, der im Moment Sänger ist“. Es scheint, also wollte Fagioli sich breiter aufstellen. Der Klang der 18 Musiker ist streicherlastig, dem Continuo hätte eine Theorbe gut getan, die Holzbläser fallen kaum auf, das Orchesterspiel klingt ein wenig zu eindimensional. Das berühmte „Scherza infida“ aus Ariodante – Anne Sofie von Otter sang sie in der legendären Minkowski-Interpretation von Traurigkeit glühend und zu Tränen rührend über 13 Minuten – findet hier eine ähnlich intensive Präsentation durch den Countertenor, die aufnahmetechnisch nicht zufriedenstellend ist und im Vergleich hörbar verliert, weil das Fagott als wichtige Stimme kaum hervor sticht. (Deutsche Grammophon 0289 479 7541 0 ) Marcus Budwitius