Da habe ich nicht genau aufgepasst. Das ist natürlich nicht der schmucke Seeling-Bau im Neorenaissancestil in Gera, sondern die Tabakfabrik in Linz, ein Industriekomplex im Stil der Neuen Sachlichkeit. Seit einigen Jahren dient sie als Kreativzentrum. Hier wurde im Herbst 2014 in Zusammenarbeit mit dem Brucknerfest als österreichische Erstaufführung Walter Braunfels’ Ulenspiegel aufgeführt, den Gera 2011 – in einem Bühnenbild des Enkels Stephan Braunfels – erstmals seit der folgenlos gebliebenen Stuttgarter Uraufführung von 1913 vorgestellt hatte. In der Linzer Fabrikhalle wird Till, den Charles de Coster in seinem zur Zeit der spanischen Inquisition in Flandern spielenden Roman zum Anführer des Widerstandes machte, zu unserem Zeitgenossen. Ein Widerstandkämpfer gegen irgendetwas. Die Deutlichkeit und Brutalität, zu der das Regietheater fähig ist, lotete Roland Schwab in einer anregenden, spannenden, insgesamt in ihrer Realistik auch verwaschene Inszenierung zwischen Wohnwagen, Autowracks und Wohnküche in der Schrottplatz-Installation der Susanne Thomasberger aus. Das führt zu packenden Bildern in scharfen Schnitten, grellen Lichtflecken, aber auch schlaffen Details, die die holzschnitthafte Handlung auf ein banales Alltagsgeschehen – Fastfood aus dem Pappbecher – herunterbrechen und die moritatenhaften Akzente in der Christus am Kreuz-Haltung des Till während seines großen Monologs im dritten Akt („Mein ganzes Leben fasst diese eine Nacht“) gleichnishaft überhöhen. Soldaten, geschändete Frauen, die mit Benzin überschüttet und von Till vor dem Abbrennen gerettet werden, Stahlrohr-Schlagstöcke, Maschinengewehre, Barrikaden aus Europaletten. Braunfels, der sich später nicht mit der Kriegsbegeisterung am Ende der Oper identifizieren mochte, hat seinen Ulenspiegel als „missglückte Oper“ bezeichnet. Das ist sie nicht.
Ohne dass man klangliche Einbusen dieser üppig instrumentierten Musik hinnehmen muss, spielten Martin Sieghart und das das neben dem Geschehen postierte Israel Chamber Orchestra auf sehr überzeugende Weise eine von Werner Steinmetz erstellte Fassung für Kammerorchester. Das Ensemble dagegen ist noch entwicklungsfähig. Der junge Marc Horus, der bereits einige Wagner-Partien in seinem Repertoire auflistet, ist ein flotter Till mit heldischem Temperament und jugendlich strahlendem Ton, der im Lauf des Abends bei den heldentenoralen Anforderungen etwas einknickt und flach wird. Ein gutes Porträt steuert Hans Peter Scheidegger als verknöcherter Alter mit Strickweste und hagerem Bass als Klas bei (DVD Capriccio C9006). Der jugendlich besetzte EntArteOpera Chor gibt die Prostituierten und Soldantenfrauen, die Bürger, Rebellen und Soldaten mit viel Engagement.
Tatsächlich aus Gera stammt die Aufnahme des 1924 im Leipziger Gewandhaus unter Wilhelm Furtwängler uraufgeführten Don Juan op. 34 und der 1909 unter Leitung von Hermann Abendroth erstmals gespielten Symphonischen Variationen über ein altfranzösisches Kinderlied op. 15. Obwohl der großorchestrale, Berlioz-wilde Don Juan mit seinem bewussten klassisch romantischen Bezug und der kunstreichen Variation der Champagnerarie und von „Là ci darem la mano“, bei denen laut Braunfels, „ein klassisches Gebilde, mit romantischem Geist verbunden, traumhaft aufsteigen und abtauchen“ solle, vermutlich einer der größten Erfolge Braunfels war, wirken die von unverhohlener Strauss-Bewunderung zeugenden brillanten Symphonischen Variationen heute überzeugender, wie Markus L. Frank und das Philharmonische Orchester Altenburg Gera am 19. März 2013 in ihrem Konzertsaal belegten.
Und nochmals Braunfels bei Capriccio, das auch Sämtliche Lieder und die Große Messe op. 37 in seinem Katalog führt: die aus seiner ersten Oper Prinzessin Brambilla herausgelöste Carnevals-Ouvertüre op. 22, die Schottische Phantasie op. 47, , die „in allem, bis auf den Namen ein Violakonzert“ ist, wie Jens Laurson in seiner ausgezeichneten, Leben und Werk verbindenden Einführung („Walter Braunfels, eine Affäre des Herzens“) schreibt, Präludium und Fuge op. 36 sowie die zwei Orchesterlieder nach Hölderlin („An die Parzen“, „Tod fürs Vaterland“) op. 27 (C5308), deren dramatische Wucht, in der sich die Kriegserfahrung von Braunfels spiegelt, Paul Armin Edelmann mit direkter Aussagekraft vermittelt. Die sehr hörenswerte, klanglich souveräne Aufnahme unter Gregor Bühl mit der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland Pfalz (C5250) spürt nicht nur der reichen Ausdruckspalette und der zwischen Spätromantik und Neuer Sachlichkeit wandelnden Formensprache von Braunfels‘ Musik nach, sondern vermittelt eine großartige Musik – im Falle der Ouvertüre und Präludium und Fuge in Ersteinspielungen – die ungeachtet des Schicksals von Braunfels (1882 Frankfurt – 1954 Köln), dessen Werk zur „Entarteten Musik“ gezählt wurde, der aber nicht emigrierte, den Zweiten Weltkrieg überlebte und die sehr zögernd einsetzende Wiederentdeckung seiner Werke nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebte, zu den wichtigen Widerentdeckungen der letzten Jahrzehnte gehört. Rolf Fath