Das klagende Lied von Gustav Mahler ist in verschiedenen Fassungen überliefert. Zunächst bestand es aus drei Teilen, im zweiten und dritten zusätzlich mit Fernorchester versehen, wie es später in der 8. Sinfonie zum Einsatz kommt. Nicht weniger als elf Solisten plus zwei Knabenstimmen sah die Besetzung vor, für das Orchester acht Harfen. Das titelgebende „Klagende Lied“ von Ludwig Bechstein und das Grimmsche Märchen „Der singende Knochen“ bildeten die Textgrundlage. Von Anfang an war klar, dass sich keine Gelegenheit würde bieten, um dieses in seinen Ausmaßen gigantische Werk eines Anfängers aufzuführen. Mahler war achtundzwanzig, als er an die Komposition ging. Folglich strich er den ersten Teil, das so genannte „Waldmärchen“, reduzierte die Zahl der Sänger auf das in Oratorien übliche Quartett. Zudem fielen sechs Harfen und das Fernorchester weg.
Nachdem Mahler zum Direktor der Wiener Hofoper aufgestiegen war, bot sich die Gelegenheit für eine Veröffentlichung diese Opus 1, wie es der Komponist selbst nannte. Dafür fügte er das Fernorchester im Schluss wieder ein. In dieser Form hob Mahler sein Werk am 17. Februar 1901 in Wien aus der Taufe. Nachdem das Klagende Lied in den 1960er Jahren für den Konzerbetrieb und die Musikindustrie wiederentdeckt wurde, bürgert sich eine Mischfassung ein, die auch auf das ursprüngliche „Waldmärchen“ zurückgriff. Dafür hatte sich der Dirigent Cornelius Meister bei seiner Aufführung im Dezember 2016 mit der Wiener Singakademie und dem ORF-Sinfonieorchester im Konzerthaus der österreichischen Hauptstadt entschieden – und damit eine Chance verpasst. Warum nicht endlich mal die Urfassung, wie sie 1997 in Manchester erklang? Wenn es einen Ort gib auf der Welt, wo das Original hingehört, dann ist es Wien! Aus zwei Konzertabenden hat Capriccio eine CD zusammengeschnitten (C5316).
Im Booklet ist die spannende Werkgeschichte ebenso nachzulesen wie der Text der Kantate. Das ist auch nötig, denn Solisten und Chor sind nicht immer gut zu verstehen. Vor allem der Chor, die renommierte Wiener Singakademie, lässt Wünsche offen. In dramatischen Situationen ist das Klangbild verwaschen und undeutlich, was womöglich auch auf das Konto der Aufnahmetechnik dieses Rundfunkmitschnitts geht. Obwohl allesamt deutscher Zunge, können die vier Solisten Simone Schneider (Sopran), Tanja Ariane Baumgartner (Mezzosopran), Torsten Kerl (Tenor) und Adrian Eröd (Bariton) dieses idiomatische Manko nicht ausgleichen, zumal auch sie sich gelegentlich schwer tun mit dem Text.
Die neue Aufnahme schwer hat es gegen die Konkurrenz nicht leicht, die mit Dirigenten wie Pierre Boulez, Simon Rattle, Kent Nagano, Riccardo Chailly, Michael Tilson Thomas oder Giuseppe Sinopoli im Laufe der Jahre geballt aufgetreten ist. Aber sie regt sie zu neuer Auseinandersetzung mit dem ambitionierten Werk an, in dem bereits der ganze Mahler angelegt ist – und nicht nur die erste Sinfonie, auf die es im dritten Teil einen unmittelbaren thematischen Vorgriff gibt. Richard Wagner, dem sich Mahler stark verbunden fühlte, geistert mit dem kompositorisch weitergeführten Rheingold-Motiv durch die Partitur. Und das direkt zitierte Weihnachtslied „Alle Jahre wieder kommt das Christuskind“ kann als Zeichen dafür gelten, dass Mahler erste musikalische Eindrücke aus seiner Kindheit nie wieder losgelassen haben. Rüdiger Winter