Igor Strawinsky gilt als Revolutionär des Balletts, Werke wie der „Feuervogel“ sind bis heute auf der Bühne und im Konzertsaal sehr populär. Jetzt ist ein anderer Vogel von ihm auf CD wiederauferstanden, Le Rossignol (Die Nachtigall), eine frühe Kurzoper. Es ist sich kein Zufall, dass Strawinsky eine Schwäche für magische Vögel hatte. Das hängt vermutlich mit seinem Lehrer Nikolai Rimski-Korsakow, dessen späte Oper Der goldene Hahn tiefen Eindruck auf Strawinsky gemacht hat.
Die Nachtigall ist eine kleine Märchenoper nach Hans-Christian Andersen, in der Strawinsky den Vogel als Symbol der Schönheit und Reinheit von einem Koloratursopran singen lässt, in diesem Fall ist das Mojca Erdmann. Der erste Akt, der in einem Wald spielt, ist noch ganz im Geist der russischen Moderne komponiert. dann hat Strawinsky das Werk lange liegengelassen, um es später in Paris weiterzuschreiben. Das Werk wurde dann als eine Art Konglomerat russischer und französischer Avantgarde 1914 in Paris uraufgeführt. Diese Spuren beider Kulturen trägt es auch heute noch in sich, was sich zum Beispiel darin niederschlägt, dass der Titel französisch geblieben ist, während in der Regel auf russisch gesungen wird, weil das von Strawinsky vertonte Originallibretto russisch ist.
Interessanter Stilbruch: Der Stilbruch zwischen erster und zweiter Hälfte der Oper (Vier Jahre Erfahrungen, zumal in Paris, machen bei einem jungen Komponisten hörbar viel aus), ist ähnlich frappant wie der in Wagners Siegfried. Der frühe Strawinsky des ersten Aktes hat einfacher, geradliniger geschrieben, mehr an Rimsky orientiert, der Pariser Strawinsky ist viel frecher, urbaner, expressiver – aber grade dieser Sprung von der Naturschönheit des Waldes zur künstlichen Welt des chinesischen Hofes ist so herrlich brutal, dass man schon von einem Glücksfall der Moderne sprechen muss. Ein reifer Komponist mit all seinem Kalkül hätte diesen Effekt vermutlich nicht erreicht. Die beeindruckende Szene im 2. Akt, in der eine künstliche Nachtigall die echte am Hof verdrängt, schildert Strawinsky mit ostinater Oboe, eingerahmt von einer steifen Pentatonik, die schon die Turandot-Stimmung Puccinis um zehn Jahre vorwegnimmt.
Bemerkenswert ist auch die seltsame Parallele ausgerechnet zu einer italienischen Buffa – Strawinsky und die Gebrüder Ricci dürften die einzigen Opernkomponisten gewesen sein, die den Tod durch eine Frau verkörperten (hier düster-herb gesungen von Mayram Sokolova). Ich bezweifle, dass Stravinsky Crispino e la Comare gekannt hat, aber es ist faszinierend zu hören, dass Komponisten zu unterschiedlicher Epochen und Schulen sich auf ähnliche Effekte besinnen, um die Zeitgenossen zu frappieren.
Scharfe Töne: Es gibt durchaus schon frühere Versionen auf Tonträgern von Le Rossignol, allerdings nicht so viele, dass eine Neueinspielung überflüssig wäre. Der komplizierte Part der Nachtigall für Koloratursopran ist nicht einfach zu besetzen, weil er eben nicht klingen darf wie die Puppe Olympia in Hoffmanns Erzählungen, man braucht eine seelenvolle und dennoch agile hohe Stimme, im Grunde Königin der Nacht und Pamina in einer Person. Da auf den schlanken Sopran Mojca Erdmanns zurückzugreifen, die in den letzten Jahren eine hervorragende Zerlina und Sophie war, liegt erst einmal nahe. Und doch enttäuscht sie hier; selbst diese kluge Sängerin kann den von Strawinsky erträumten Charme nicht einlösen, die Vision des Komponisten von der Inkarnation der Naturkräfte in glasklaren Vokalisen wird hier nicht ganz befriedigend umgesetzt, Mojca Erdmann klingt zuweilen etwas kantig in der Rolle. Doch kann diese Vision überhaupt jemand perfekt Realität werden lassen? Vielleicht wird die Sängerin hier das Opfer einer noch zu weltfernen Musiksprache Strawinskys, der sich wenig um Machbarkeit und Theaterpraktiken schert.
Wesentlich unglücklicher besetzt ist der Fischer mit Evgeny Akimov. Diese Figur ist ein lyrischer Tenor, eine Art Erzähler, und da die Orchesterpartitur oft sehr harsch ist, muss der Tenor möglichst weich und sinnlich dagegenhalten – dieser hier ist so schroff, dass ein Teil der Wirkung des Werks dabei leider verlorengeht. Das WDR-Sinfonieorchester unter Jukka-Pekka Saraste muss sich nichts vorwerfen lassen – ein jugendstiliger, voluminöser Sound, plus Mut zur Brutalität, wo sie angebracht ist. Ergänzt wird die kurze Oper sehr stimmig durch Orchester-Lieder aus der Zeit der Komposition der Nachtigall, gesungen von Katrin Wundsam und Hans Christoph Begemann.
Booklet nur für Experten?: Bedauerlich, dass auch die Verantwortlichen von Orfeo nun auch am Elite-Koller leiden und anscheinend der Meinung sind, jeder potenzieller Käufer sei ein geprüfter Opernexperte. Anders ist es nicht zu erklären, dass den Sängern/Rollen im Booklet kein Fach mehr zugeordnet wird. Sopran, Baß oder Tenor? Wir müssen raten. Irgendwas wird’s schon sein. Schade, diese Firma produzierte einst exzellente Booklets, die auch für Nicht-Akademiker gut lesbar waren. Matthias Käther