Dieses Buch gibt sich bescheiden. Auf knapp achtzig Seiten wird ein bedeutendes Kapitel deutscher, ja europäischer Musikgeschichte abgehandelt. Bach, Liszt und Wagner – Spaziergänge durch das musikalische Weimar von gestern und heute. Herausgekommen ist die reich bebilderte Neuerscheinung in der Edition Leipzig (ISBN 978-3-361-0025-3). Autor Heinz Stade, Journalist und Buchautor aus Erfurt, der thüringischen Landeshauptstadt, kennt sich aus. Er empfiehlt sich aber nicht als Lokalpatriot, der alles besser weiß. Er will neugierig machen und seine Leser ermuntern, sich selbst auf die Reise zu begeben. Jenen aber, die mit den Örtlichkeiten bereits mehr oder weniger gut vertraut sind, eröffnen sich neue Sichten. Bestenfalls haben sie das Bedürfnis, eigen Erfahrungen mit dem Weimar des Jahres 2017 abzugleichen. So festgefügt die Stadt in ihrem Innersten auch ist, unterliegt sie dem Gesetz des Wandels. Allenthalben wird etwas restauriert, mit neuem Anstrich versehen und heutigen touristischen Bedürfnissen sowie den Lebensgewohnheiten der Einwohner angepasst. Nicht jeder Besucher eilt zuerst in Goethes Haus am Frauenplan. Er will auch flanieren, einkehren, Thüringer Bratwürste essen, einfach nur schauen. Oder ganz praktische Dinge einkaufen. Die Zahl der kleinen Buchhandlungen, verwinkelten Antiquariate und Musikgeschäfte hat nicht zugenommen. Modische Accessoires dürften heutzutage leichter aufzutreiben sein als ein alter Kupferstich.
Weimar spielt nicht nur in den Biographien der im Titel genannten drei Herren eine Rolle. Allein Franz Liszt, der Rastlose, dessen eigentliche Heimat Europa war, verbrachte von den dreien die meiste Zeit in Weimar und hinterließ auch die deutlichsten Spuren. Alles in allem blieb er Weimar zwischen 1848 und 1860 fest verbunden. Als Hofkapellmeister hatte er in den drei Wintermonaten Residenzpflicht. Nach Goethes Tod 1832 sollte er der Stadt zu neuen Glanz durch Kunst und Musik verhelfen. Eines der bedeutendsten Ereignisse seines Wirkens war die Uraufführung von Richard Wagners Oper Lohengrin am 28. August 1850 – Goethes Geburtstag. Wagner konnte nicht dabei sein. Nach seiner Teilnahme an der Revolution 1848 in Dresden war er auf der Flucht. Bis er sich im Exil in Zürich niederlassen konnte, hielt er sich wiederholt inkognito in Weimar und Umgebung auf. Es gab sichere Verstecke für den politisch Verfolgten. Für Liszt war die Uraufführung des Werkes eines behördlich gesuchten Revolutionärs ein großes Wagnis, das auch am Hof der Residenzstadt argwöhnisch beäugt worden war. Wagner zeigte sich dankbar. Stade zitiert aus einem Brief von Heiligabend 1850 an Liszt: „Wahrlich, teurer Freund, Du hast aus diesem kleinen Weimar für mich einen wahren Feuerherd des Ruhmes gemacht.“ Gemeinsam mit der Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein lebte Liszt mehr als zehn Jahre in wilder Ehe auf der Altenburg, einer Villa am Stadtrand, die jetzt von der Musikhochschule genutzt wird, die den Namen Liszts trägt. In relativer Abgeschiedenheit entstanden hier seine wichtigsten Werke. Als Gäste kehrte künstlerische Prominenz ein, darunter Friedrich Hebbel, Bettina von Arnim, Hoffmann von Fallersleben, Peter Cornelius, Hans von Bülow und Hector Berlioz. Liszt setzte sich sehr für Berlioz ein und führte dessen Oper Benvenuto Cellini in Weimar auf. In dieser gekürzten und ins Deutsche übersetzten Fassung wurde das Werk noch 1952 beim österreichischen Rundfunk mit Fritz Uhl in der Hauptrolle eingespielt. Bei späteren Aufführungen in der Originalsprache wurde ebenfalls auf Liszts Kürzungen zurückgegriffen.
Im Herbst seines bewegten Lebens ließ sich Liszt erneut in Weimar nieder und bewohnte von 1869 an eine Etage in der Hofgärtnerei, umschwärmt und umsorgt von seinen Schülern. Dort kann noch heute sein relativ bescheidener Lebensstil in Augenschein genommen werden. Die Räume sind Museum und werden als solches auch im Buch von Stade empfohlen. Ein Besuch lohnt sich, auch wenn das berühmte Domizil jetzt etwas überrestauriert wirkt. Ich erinnere mich noch an die verstaubte, dem Original offenbar nähere Ausstattung. In Weimer habe ich 1970 als junger Mann eine alte Frau getroffen, die Liszt noch persönlich gekannt hat: die Schriftstellerin Julie Kniese, Tochter des Bayreuther Chorleiters, der bis 1905 – er starb plötzlich an einem Herzinfarkt – die rechte Hand von Cosima Wagner und damit der Leiter der Festspiele gewesen ist. Sein Kind war Jahrgang 1880, bei Liszts Tod in Bayreuth also sechs Jahre. Sie habe oft auf seinem Schoß gesessen und an seinen großen Gesichtswarzen gezupft. Er habe das gern zugelassen und sei sehr gütig gewesen. In ihrem Haus, das einen verwunschenen Innenhof hatte, lebte sie wie Miss Havisham in Dickens Roman „Große Erwartungen“, eingesponnen in die eigene Vergangenheit, aus der sie nicht herausfand. Zum langen fadenscheinigen Kleid trug sie eine Haube. Kein gutes Haar ließ sie am Nachkriegs-Bayreuth der Wagnerenkel Wieland und Wolfgang, die sie heftig beschimpfte. Durch das von ihr herausgegebene Buch „Der Kampf zweier Welten um das Bayreuther Erbe“, das mir ein Bibliothekar geschenkt hatte, war ich auf sie aufmerksam geworden und bekam schnell heraus, dass sie noch lebte, in Weimar lebte. Dieses Buch ist dem Vermächtnis ihres Vaters, der Wagner bei der Uraufführung des Parsifal assistiert hatte, gewidmet. Kniese soll ein Heft geführt haben, in das er alle Bemerkungen und Anweisungen Wagners akribisch eintrug. Auf dieser Grundlage hätte das Werk für alle Zeiten genauso aufgeführt werden sollen wie 1882. Ein so absurder wie sinnloser Kunstkampf, der schon in dem Moment verloren war, als er begann. Tochter Julie meinte, ihn 1970 noch immer führen zu müssen. Sie zeigte mir Briefe, auch solche von Liszt. Im Geheimfach eines alten Sekretärs verwahrte sie nagelneue Briefmarkenbögen mit dem Porträt Hitlers. Das hat sich mir eingeprägt – auch als Teil Weimars.
Hitler ist oft in Weimar gewesen und wurde gefeiert. Auf historischen Fotos sind Straßen und Plätze zum Bersten voll mit Menschen. Die ganze Stadt schien auf den Füßen. Er logierte im Hotel „Elephant“ und zeigte sich auf dessen Balkon, den es noch gibt, der jubelnden Menge. „Lieber Führer komm heraus, aus dem Elefantenhaus. Lieber Führer sei so nett, tritt zu uns ans Fensterbrett.“ Solche Verse dürften damals populärer gewesen sein als Gedichte von Goethe und Schiller. Seinerseits setzte der Schriftsteller Thomas Mann, ein wortgewaltiger Hitler-Gegner, in seinem Exil dem Hotel im Roman „Lotte in Weimar“, der 1939 herauskam, ein gegensätzliches Denkmal. Solcherart sind die Zusammenhänge, auf die man in Weimar stößt. Auf Schritt und Tritt stößt. Mindestens einmal kommt der Stadtwanderer auf seinem Rundgang am gigantischen Gauforum vorbei, welches sich auf rund vierzigtausend Quadratmetern erstreckt. Die Nationalsozialisten hatten in diesem Rahmen fünf verschiedene Komplexe geplant, nur drei wurden fertig und dienen jetzt Thüringer Behörden als Arbeitsräume. Ein vierter unvollendeter Bau beträchtlichen Ausmaßes ragte noch zu DDR-Zeiten als Bauruine empor und ist jetzt als Einkaufszentrum und Kino in seiner bedrohlichen Hässlichkeit nicht mehr zu erkennen. In Weimar ist kein Vorbeikommen an den braunen Hinterlassenschaften. Für die Schriftstellerin Anna Seghers, die durch ihren Widerstandsroman „Das siebte Kreuz“ Weltrum erlangte, ist Weimar als Ort „in der deutschen Geschichte zugleich der beste und der schlechteste, denn hier wirkten große Dichter und hier war das Lager von Buchenwald“, wo während der Hitlerdiktatur mehr als fünfzigtausend Menschen umkamen.
Friedrich Schiller hat seine Ode an die Freude, die durch Beethovens neunte Sinfonie vielleicht zur berühmtesten aller derartigen Vertonungen wurde, nicht in Weimar geschrieben, sondern in Leipzig und Dresden. Das war 1785. Erst vierzehn Jahre später ließ er sich in Weimar nieder, wo er enge Beziehungen zu dem dort bereits residierenden Goethe unterhielt, der noch immer in der Stadt omnipräsent ist. Goethe und Weimar sind eins. Im sehenswerten Haus am Frauenplan lassen sich Möbel, Büsten, Bücher und alle möglichen Sammlungen bestaunen. Was nicht direkt in Augenschein genommen werden kann, sondern erfühlt werden muss, ist die Atmosphäre tüchtigen Schaffens und Waltens, die den Besucher bereits im prächtigen Treppenhaus empfängt. Ein Ort der Strenge und Behaglichkeit. Offenbar die beste Mischung, um etwas Bedeutendes hervorzubringen.
Goethe – bleiben wir nur bei der Musik – zieht sich wie der sprichwörtliche rote Faden durch Kompositionen aller Art. So häufig wie er dürfte kein anderer vertont worden sein. Mit mehr als siebzig Liedern ist die Goethe-Abteilung im Liedschaffen Franz Schuberts die größte. Hugo Wolf sind auf seine Gedichte etliche der schönsten Lieder gelungen. Mozarts Veilchen gilt als der Inbegriff von musikalischer Lyrik. Felix Mendelssohn Bartholdy, der sich auch bei Goethe bediente, ist als Zwölfjähriger am Frauenplan von Carl Friedrich Zelter eingeführt worden und hat dem alternden Hausherrn vorgespielt und viel beschriebenes Entzückend verbreitet. Johannes Brahms fühlte sich zu Goethe genauso hingezogen wie Robert Schumann, Hans Pfitzner, Max Reger und Richard Strauss, der seine prächtige Gesamtaufgabe mit Werken des Dichters immer zur Hand hatte. Carl Loewe, der sich in Jena entschlossen Zutritt zum vergötterten Goethe verschafft hatte, legte mit seinem Erlkönig als Opus 1 sogleich eines seiner Meisterwerke hin. Zu dieser aus drei Ballen bestehenden Erstlingsgruppe gehört auch die schottische Ballade Edward, die Johann Gottfried Herder ins Deutsche übertragen und seiner wegweisenden Sammlung „Stimme der Völker in Liedern“ einverleibt hatte. Er galt als einer wichtigsten der Denker deutscher Sprache im Zeitalter der Aufklärung und bildete gemeinsam mit Christoph Martin Wieland, Goethe und Schiller das klassischen Viergestirn von Weimar. Herder wirkte von 1776 an als Superintendent an der Stadtkirche St. Peter und Paul, die heute gemeinhin als Herderkirche gilt. Thomas Mann – und wieder schließt sich ein Kreis – hatte das mit dem Goethepreis verbundene Geld für den Wiederaufbau der im Krieg stark beschädigten Kirche gestiftet. Der Preis war ihm bei seinem Besuch 1949 zu den Feiern zu Goethes zweihundertstem Geburtstag verliehen worden. Damals gab es die DDR noch nicht.
Wer seine Schritte etwas abseits gegen den Park an der Ilm lenkt, wo Goethes schlichtes Gartenhaus steht, das zu einem Vorbild für Architekten werden sollte, kommt an Shakespeares Denkmal vorbei. Der hat nun nicht in Weimar geweilt. Warum also dort sein Denkmal? Es sollte vom starken Einfluss zeugen, den seine Werke auf Weimarer Klassiker genommen hatte. Initiator war die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft, die ihren 40. Gründungstag und den 340. Geburtstag des englischen Dramatikers zum Anlass nahm, den Bildhauer Otto Lessing mit dem Denkmal zu beauftragen. Es wurde 1904 enthüllt und gilt bis heute als das einzige auf dem europäischen Festland. Shakespeare blickt, lässig auf einem Stein sitzend, zur Sommerresidenz Goethes. Wohin auch sonst? Ein Kapitel für sich sind Shakespeare und die Musik, wobei es auch Spuren nach Weimar gibt. So hat Liszt den Shakespeare’schen Hamlet zum Thema einer seiner sinfonischen Dichtungen gemacht. In Webers Oberon gibt es eine Verknüpfung mit dem Weimarer Dichter Wieland, dessen romantisches Heldengedicht, versehen mit Motiven aus Shakespeares Sommernachtstraum und Sturm, die Vorlage für das Libretto bildete.
Weimar kann für sich in Anspruch nehmen, Johann Sebastian Bach länger beherbergt zu haben als jede andere Stadt, in der er lebte. Bach hielt es insgesamt zehn Jahre in Weimar, wo ein Großteil des Orgelwerkes und mehr als dreißig Kantaten entstanden und die später berühmten Söhne Wilhelm Friedemann (1710) und Carl Philipp Emanuel (1714) geboren wurden. Im Buch wird dokumentiert, wie sich die Weimarer Zeit Bachs aufteilte. Erstmals sei er 1702/03 für nicht einmal ein Jahr als „HofMusicus bey Herzog Johann Ernsten“ in der Stadt gewesen. Nach Zwischenaufenthalten in Arnstadt und Mühlhausen kehrte Bach 1708 nach Weimar zurück und blieb bis zum Ende des Jahres 1717. Verblasst ist die unmittelbare Erinnerung an Bach auch deshalb, weil sich – wie bei Liszt und den Dichtern – kein Wohngebäude erhalten hat. Solche Adressen machen den Umgang mit dem Erbe einfacher – und konkreter. Besucher verlassen solche Gedenkstätten gern mit dem Gefühl, jetzt besser Bescheid zu wissen über denjenigen, der einst darin lebte und Großes vollbrachte. Wer sich Bach in Weimar vorstellen will, der muss seine Musik hören, die dort entstand. Er wird also nicht den großen Tisch sehen können, an dem Bach mit den Seinen saß. Der Leser erfährt, dass das Haus der Familie am Markt 17 – und damit in unmittelbarer Nähe zum „Elephant“ – bereits 1750 abgerissen wurde. Sein wichtigster höfischer Arbeitsplatz, die Kapelle im Stadtschloss, fiel 1774 einem Brand zum Opfer. Spuren in der Hofkirche sind verblasst, weil diese mehrfach umgebaut und im Februar 1945 durch Luftminen schwer beschädigt wurde. Dafür hat sich aber der Taufstein, in dem sechs seiner Kinder getauft wurden, erhalten. Immerhin. Erinnerung wird künstlerisch gepflegt. Großen Anteil an dieser Tradition kommt dem Organisten Johannes-Ernst Köhler zu, der 1990 in Weimar starb. 1953 – so ist zu lesen – rief er in der Herderkirche die „Stunde der Orgelmusik“ ins Leben und trug auch mit Schallplattenproduktionen zum Ruhme Bachs bei.
Doch die Geschichte um Weimar und die Musik ist längst nicht zu Ende. Unbedingt genannt werden muss noch der Komponist Engelbert Humperdinck, dessen Oper Hänsel und Gretel 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wurde. Auch Guntram von Richard Strauss ist ein Jahr später erstmal in Weimar auf die Bühne gekommen. Die Leitung hatte Strauss selbst übernommen. Das Publikum nahm das Werk zwar freundlich auf. Im Spielplan konnte es sich aber nicht halten und wurde bald wieder abgesetzt. Bereits 1877 erblickte Samson und Dalila von Camille Saint-Saëns das Licht der Öffentlichkeit. Diese Oper wurde in deutscher Übersetzung auf deutschen Bühnen ein großer Erfolg, bis sie 3. März 1890 erstmals in einem französischen Opernhaus, dem Théâtre des Arts in Rouen herausgekommen ist. Der umnachtete Philosoph Friedrich Nietzsche, zunächst ein Anhänger, dann ein Widersacher Richard Wagners, hatte auch selbst komponiert und wurde von seiner Schwester in Weimar gepflegt, wo er 1900 auch starb. Ottmar Gerster, der während der Nazizeit mit seinen Opern Enoch Arden und Die Hexe von Passau sehr erfolgreich war, lehrte nach dem Krieg als Rektor an der Musikhochschule. Und – last but not least – darf auch Nike Wagner, die streitbare Urenkelin von Richard Wagner, nicht unerwähnt bleiben, die bis 2013 das Kunstfest in Weimar leitete und durch Aufführungen die Erinnerung an ihren Urahnen Franz Liszt beschwor. Viele Wege führen nach Weimar. Rüdiger Winter
Das große Bild oben zeigt eine Szene aus der Oper „Samson und Dalia“ von Camille Saint-Saëns und entstammt einer der beliebten und weit verbreiteten Bilderserien, mit denen der Liebig-Fleischextrakt beworben wurde. Das Werk wurde 1877 in deutscher Sprache am Hoftheater Weimar auf Betreiben von Franz Liszt uraufgeführt. Dirigent war Eduard Lassen, der auch als Komponist mit einer Schauspielmusik zu Goethes „Faust“ hervorgetreten ist. Die Oper hatte großen Erfolg, der sich auch auf anderen deutschen Bühnen fortsetzte. Erst am 3. März 1890 kam „Samson et Dalila“ erstmals an einem französischen Opernhaus, dem Théâtre des Arts in Rouen, heraus.