Bartók und Strawinsky als Heimspiel

 

Die bemerkenswerte Michael Gielen Edition von SWR Music geht in die nächste Runde. Nach dem bereits in operalounge.de besprochenen  Vol. 4 (SWR19028CD), das der Romantik und Spätromantik verpflichtet war, ist man jetzt bei Vol. 5 angekommen (SWR19023CD). Im Mittelpunkt der sechs CDs umfassenden Box stehen Werke von Béla Bartók und  Igor Strawinsky, beide Anfang der 1880er Jahre geboren. Ihre Musik durchbrach die Grenzen der Spätromantik und ebnete der Moderne den Weg. Kein Wunder, dass sich Gielen in diesem Repertoire heimisch fühlte. Wie bereits in den vorausgegangenen Boxen, umfasst auch die Neuerscheinung einen breiten Zeitrahmen: Es sind Aufnahmen zwischen 1967 und 2014 enthalten, also von den Anfängen bis zum (selbst gewählten) Ende der Karriere des Dirigenten Michael Gielen. Die ersten drei CDs widmen sich Bartók, dessen Musik Gielen als die im Vergleich „apollinischere, bravere“ charakterisiert, die zugänglicher sei, was er auch auf den Publikumsgeschmack zurückführt, dem sich Bartók nicht verschließen konnte. Den Anfang macht die Suite aus dem Ballett Der holzgeschnitzte Prinz, bei der Uraufführung ein großer Erfolg für den Komponisten. Gielen hat den langen Atem, lässt der Musik Raum und Zeit, sich zu entfalten. Schroffheit und Klangpracht ergänzen sich hier zu einem überzeugenden Ganzen. Ähnlich das „Konzert für Orchester“, ein Spätwerk mit parodistischen Einwürfen. Bereits hier merkt man, dass das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, welches den Großteil der enthaltenen Aufnahmen bestreitet, voll in seinem Element ist. Die Jahrzehnte lange, fruchtbare Zusammenarbeit mit Gielen (zwischen 1986 und 1999 Chefdirigent, danach bis 2014 ständiger Gastdirigent und seit 2002 auch Ehrendirigent) ist freilich unverkennbar und ermöglicht derart überzeugende Ergebnisse.

Die „Vier Orchesterstücke“ leiten CD 2 ein. Hierbei handelt es sich um eine eigenartige Erscheinung, die weder Sinfonie noch Suite genannt werden kann und impressionistische Anflüge besitzt. Es folgt das gerade zweisätzige „Violinkonzert Nr. 1“, hier 22 Minuten lang, welches im Schatten des „meisterlichen“ zweiten Violinkonzerts steht, ohne qualitativ wirklich abzufallen. Als Solist fungiert Christian Ostertag, der seine Sache mit Bravour absolviert. Beschlossen wird die zweite Compact Disc mit der „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“, seinerzeit ebenfalls durchaus erfolgreich uraufgeführt. Auch hier verweigert sich Bartók abermals einer festen musikalischen Form. Waren auf den ersten beiden CDs nur Einspielungen aus dem 21. Jahrhundert vereinigt, finden sich auf der dritten CD deutlich ältere Aufnahmen, die in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre datieren. Als Klangkörper fungierte damals das Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken, mit dem Gielen in seinen früheren Jahren häufig zusammenarbeitete. Kurz und prägnant die gerade 16-minütige „Tanz-Suite“. Gewichtiger das vom Pianisten Robert Leonardy kongenial vorgetragene „Klavierkonzert Nr. 2“, das deutlich klassischer, drei Sätze umfasst. Den Abschluss der Bartók-Aufnahmen stellt schließlich Der wunderbare Mandarin dar, wiederum eine späte Aufnahme mit den Baden-Badenern und Freiburgern (2007). Dem Stück war in seiner ursprünglichen Fassung als Tanzpantomime wenig Erfolg beschieden und es löste in Köln gar einen Skandal aus (der damalige Oberbürgermeister Konrad Adenauer ließ es vom Spielplan nehmen). Gielen legt die später umgearbeitete Suite vor und stellt kompromisslos die Modernität dieser expressionistischen Tonschöpfung heraus.

Der zweite Teil der Box hat sodann Strawinsky zum Thema. Die drei Sinfonien machen auf der vierten CD den Anfang, wobei insbesondere die „Psalmensinfonie“ herausragt. Wiederum handelt es sich um in den 2000ern entstandene Einspielungen aus Freiburg. Für Gielen ist Strawinsky gleichsam „die Versteinerung der Schönberg-Schule in der Dodekaphonie“. Dass er relativ wenig Strawinsky dirigierte, sei äußeren Umständen, keineswegs einer etwaigen Ablehnung geschuldet gewesen, so Gielen. Besonders die „Sinfonie in drei Sätzen“ habe es ihm angetan. Dies kann in der exzellenten vorliegenden Aufnahme durchaus nachvollzogen werden. CD 5 versammelt zwei Chorwerke, zum einen Le roi des étoiles, zum anderen das sogenannte Canticum sacrum, wiederum aus zwei verschiedenen Abschnitten in Gielens Karriere stammend (1971 aus Stuttgart und 2007 aus Freiburg). Dazu gesellt sich das fast schon irrwitzig kurze Requiem, bei welchem die Mezzosopranistin Stella Doufexis und der Bariton Rudolf Rosen als Solisten fungieren. Das jeweils beteiligte SWR Vokalensemble Stuttgart brilliert in allen Fällen. Eine feurige Aufnahme des Balletts Agon rundet diese Platte ab. Auf der letzten CD findet man ein weiteres Ballett, nämlich Pulcinella, in seiner Konzeption bald doppelt so umfangreich und auch um sehr namhafte Solostimmen bereichert (Edda Moser, Werner Hollweg, Barry McDaniel). Das weniger bekannte Apollon musagète, ein Ballett für Streichorchester, muss sich nicht verstecken, entlockt Gielen doch auch demselben unerhörte Töne. Den Abschluss dieser Box bildet schließlich das „Scherzo à la russe“ in der Orchesterfassung, 1943 eigentlich für einen Propagandafilm konzipiert, Gielen zufolge ein „lustiges“ Werk, das 1998 in einer freien Zeit während der Produktionsphase spontan eingespielt wurde. Ich laufe Gefahr, mich zu wiederholen, doch auch Vol. 5 entpuppt sich als höchst begrüßenswerte Ergänzung der Diskographie Michael Gielens (und löst somit die hohen Erwartungen der Vorgänger durchaus ein). Das vorbildliche Niveau in der Aufbereitung der Box (sowohl tontechnisch als auch in der Präsentation) wird anstandslos auch hier gehalten. Ein sehr detailliertes Booklet (deutsch und englisch) ergänzt die Neuerscheinung.

Mit der auf zehn Boxen angelegten Edition würdigen Naxos und SWRmusic Michael Gielen anlässlich seines 90. Geburstag am 20. Juli 2017. Es sei – so der Firmentext –  ein „nie dagewesenes Editionsprojekt mit etlichen Erstveröffentlichungen aus allen bedeutenden Karriereabschnitten“ des Dirigenten. „Gielen ist unbestreitbar einer der wichtigsten Dirigenten der Nachkriegsgeschichte“, hieß es weiter. „Naxos und SWRmusic gratulieren Michael Gielen herzlich und werden sich auch weiterhin für den Erhalt und die Verbreitung von Gielens musikalischem Lebenswerk einsetzen.“  Daniel Hauser