Wer sich für Lieder und Balladen von Carl Loewe interessiert, sollte jetzt genau hinhören. Die Sopranistin Dorothe Ingenfeld hat für ihre CD „Von Müttern und Töchtern“ ein Stück ausgewählt, das es bisher offenbar nur einmal auf Tonträger schaffte: die Walpurgisnacht auf einen Text von Willibald Alexis. Der aus Breslau stammende Schriftsteller, der zwischen 1798 und 1871 lebte, gilt als Begründer des realistischen historischen Romans in der deutschen Literatur und somit als Vorläufer von Theodor Fontane. Er war nur zwei Jahre älter als Loewe. Die Walpurgisnacht ist ein frühes Werk und bildet mit Treuröschen und Herr Oluf als Opus 2 eine Gruppe. Es ist ein Dialog zwischen Tochter und ihrer Mutter, die sich in dessen Verlauf als Hexe herausstellt, die in der Walpurgisnacht „oben auf dem Blocksberg gewacht“ hat. Blocksberg ist eine alternative Bezeichnung für den Brocken im Harz, die im Zusammenhang mit dem Hexenmythos verwendet wird. Der Dialog, auf die Fragen der Tochter folgen die Antworten der Mutter, offenbart eine völlig zerrüttete Beziehung. Erstmals tauchte die Ballade als Tondokument in der Gesamtausgabe der Lieder und Balladen von Loewe bei cpo auf und wird dort von Gabriele Rossmanith gesungen.
Jetzt folgt ihr Dorothe Ingenfeld mit einer sehr pointierten Interpretation nach, deren CD als Einspielung des Deutschlandradios beim Label dreyer gaido herausgekommen ist (CD 21103). Am Klavier begleitet wird sie wechselseitig von Anita Keller und Katrin Dasch. Die drei Frauen haben gut recherchiert und dem Vernehmen nach viel mehr Lieder zum Thema gefunden, als letztlich auf eine CD passten. Es dominieren die Komponisten mit den großen Namen: Mozart, Brahms, Schumann, Reger, Wolf, Chopin, Schubert, Pfitzner, Wagner, Franz, Haydn, Mahler und der erwähnte Loewe. Britten ist mit A Charm die absolute Ausnahme. Lieder nach einem Thema auszuwählen und nicht zu vorderst nach den stimmlichen Voraussetzungen hat seine Tücken. Nicht alles gelingt perfekt, auch die Walpurgisnacht nicht. Insgesamt aber ist eine höchst interessante Produktion zustande gekommen.
Rätselhaft ist, warum diese Ballade, die zu Loewes besten Schöpfungen gezählt werden darf, ein solches Schattendasein führt. Die betuliche Uhr, die mit den Namen des Komponisten am engsten verknüpft ist, hat es mehr als fünfzig Einspielungen gebracht, Edward, das formale Gegenstück zur Walpurgisnacht, auf mindestens fünfundzwanzig. Liegt eine Erklärung in der Tatsache, dass die Gesänge Loewes über Jahrzehnte eine Männerdomäne waren, die Walpurgisnacht aber unbedingt eine Interpretin verlangt? In der Sekundärliteratur finden sich allerlei Hinweise auf das Stück. Lula Mysz-Gmeiner (1876 bis 1948), eine berühmte Altistin, Lehrerin und Schwiegermutter von Peter Anders, hat sich mit der Walpurgisnacht zwar beschäftigt, sie letztlich aber wohl nicht in ihr Repertoire aufgenommen. Überliefert ist ein Briefwechsel mit Max Runge, der nach dem Tod Loewes im Auftrag der Familie die Lieder und Balladen herausgegeben hat. Runge hatte die Sängerin nach einem Liederabend offenbar ermuntert, sich auch der Walpurgisnacht anzunehmen. Ihre Antwort vom 23. November 1926: „Die Walpurgisnacht ist mir natürlich bekannt … sie liegt mir jedoch in der Originallage zu hoch und verliert bei Transposition in meine Stimmlage.“ Sie wolle sich aber erneut damit beschäftigen – „vielleicht kann ich sie doch singen“. Was daraus wurde, ist mir nicht bekannt. Aufgenommen hat die Sängerin allerdings die Ballade Herr Oluf aus derselben Opus-Gruppe. Eine weitere Spurt führt zu Richard Wagner nach Bayreuth. Im Januar 1881 vermerkt Frau Cosima in ihrem Tagebuch: „R. trägt einige Balladen von Loewe vor, wie er sagt, um zu zeigen, was an uns Germanen verlorengegangen ist.“ Loewe galt etwas in Wahnfried. Noch in Venedig, drei Monate vor seinem Tod, fantasierte er auf einem neuen Flügel und ließ dabei auch – wie es Cosima ausdrückt – den Jüngling von Elvershöh mit einfließen. Gemeint ist die frühe Ballade Elvershöh, die noch an anderer Stelle des umfangreichen Tagesbuchs erwähnt wird wie auch Herr Oluf, Der Wirtin Töchterlein und der in seiner Dramatik an Shakespeare erinnernde Edward nach einer Übersetzung von Herder aus dem Schottischen. Die Walpurgisnacht trägt bei Cosima den Titel „Hexen“. So wird sie auch in einigen älteren Ausgaben bezeichnet. Loewe selbst soll diesen Namen auch gebraucht haben.
Eine wichtige Quelle in diesem Zusammenhang ist die Autobiographie „Mein Leben“ von Lilli Lehmann, die bei der ersten geschlossenen Aufführung des Ring des Nibelungen 1876 in Bayreuth die Woglinde sang: „Bei Wagner kamen wir … allabendlich zusammen … nur Liszt nebst den nächsten Bayreuther Freunden waren diesem Kreise zugestellt. Gura sang viel Löw’sche Balladen, die Wagner ganz besonders liebte. Hier war es auch, wo er mir Löwes Ballade Walpurgisnacht vorsang, deren Bedeutung er besonders hervorhob und Jos. Rubinstein aufstehen hieß, um sie selbst zu begleiten, weil er (gemeint ist Joseph Rubinstein) den Geist des Gedichts resp. der Komposition nicht richtig erfasste.“ Wagner habe sich verwundert gezeigt, dass die Ballade „nie gesungen würde, die doch mächtig sei, und legte sie mir besonders ans Herz“. Obwohl die Lehmann mehr als zehn Lieder aufgenommen hat, Loewe ist leider nicht dabei. Rüdiger Winter