Innerlichkeit und Gedenken

 

Die Übersetzungen von Homers Ilias und Odyssee durch den Altphilologen Johann Heinrich Voß (1751-1826) sind heute immer noch erhältlich. Dass Voß als Zeitgenosse Goethes auch ein beliebter Lyriker war, ist hingegen kaum im Bewusstsein. Zu Lebzeiten und später fanden sich Komponisten, die ihn vertonten, die CD Seid menschlich, froh und gut bringt einen Querschnitt von 36 Liedern des in Mecklenburg geborenen Voß, der seine Lyrik stets auch mit Blick auf eine Vertonung als Lieder dachte, Voß‘ heute wenig präsenter Freund Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800) ist mit sechs Kompositionen vertreten. Die Zusammenarbeit von Voß und Schulz wird im Beiheft als „Komponisten-Dichter-Werkstatt“ bezeichnet und zeigt, wie Voß selber seine Lyrik musikalisch empfand. Weiterhin in die Auswahl dieser CD aufgenommen sind als ältester  Komponist C.P.E. Bach, Voß‘ Altersgefährten Johann Friedrich Reichardt, Friedrich Ludwig Kunzen, Franz Xaver Sterkel, Carl Friedrich Zelter, Johann Rudolf Zumsteeg und Hans Georg Nägeli sowie als späte Zeitgenossen Carl Maria von Weber, Fanny Hensel und Felix Mendelssohn. Weiterhin sind Franz Schubert und Johannes Brahms mit Liedern auf Lyrik von Ludwig Christoph Hölty vertreten, die Voß als Herausgeber überarbeitete. Manche Gedichte sind mehrfach dabei, bspw. das Minnelied, deren zweite Strophe als Beispiel für Voß‘ Tonfall herangezogen werden kann: „Ach! bin inniglich / Minnewund! / Gar zu minniglich / Dankt ihr Mund; / Lacht so küßlich, / Daß mir’s bebt in des Herzens Grund!“ Die Vertonungen von Carl Maria von Weber, Carl Loewe und Johann Rudolph Zumsteeg laden zum Vergleich ein.  (Auch Johannes Brahms vertonte das Minnelied in den „12 Lieder und Romanzen“ op. 44, allerdings für vierstimmigen Frauenchor). Voß bewunderte Klopstock und Pindar, zwischen Aufklärung, Naturschwärmerei und  antiken Versmaße bewegt sich auch die Spannbreite seines Schaffens. Innerlich, heiter, erhaben, unmittelbar und anti-höfisch – seine Lyrik strebte einen volksnahen und volksbildenden Ton an, Musik und Lyrik sollten sich zur Herzensbildung vereinen, sein Freund Schulz wollte „moralische Menschenlieder“ komponieren und als „Liedermann des Volkes“ gelten. Nicht alle Komponisten interessierten sich für diese Intention, die Romantiker betonten das Empfindsame. Eine spannende Zusammenstellung und auch die Interpretation ist in den richtigen Händen und Stimmbändern: der vielseitige Bass-Bariton Ulf Bästlein ist selber promovierter Philologe und Germanist und als Professor an diversen Musikhochschulen prädestiniert für dieses Projekt. Seine Stimme mag manchmal etwas Frische und Beweglichkeit vermissen lassen, Ausdruck und Engagement überzeugen umso mehr. Weiterhin aufgewertet wird die Einspielung durch Pianist Sascha el Mouissi, der auch den Vertonungen der weniger bekannten Komponisten viel abgewinnen kann. Ein ausführliches Beiheft wertet diese für Liederfreunde sehr gelungen zusammengestellte und interpretierte Raritätensammlung weiter auf. (Gramola 99118)

Der Komponist  Friedrich Kiel (1821-1885) hat sein Requiem in f-Moll op. 20 1862, sieben Jahre vor Johannes Brahms‘ innovativen  „Ein deutsches Requiem“, uraufgeführt. Es war sein Durchbruch als Komponist und brachte ihm eine Professorenstelle ein, als angesehener Kompositionslehrer war er an verschiedenen Hochschulen tätig. Das ca. einstündige, in Latein gesungene Requiem ist explizit als Konzertwerk und nicht für den sakralen Raum gedacht. Als Protestant konnte er auf keine Vertonungstradition zurückgreifen, sein Vorbild findet sich bei Mozart, vielleicht auch bei Cherubini. Musikalisch kombiniert sich „kontrapunktische Linienführung mit romantischer Harmonik und einprägsamer Melodik“, erläutert der Dirigent. Ein düsteres Introitus, ein angstvolles Kyrie, ein tonmalerisches Dies irae (dass noch weit von der Drastik Verdis entfernt ist), Verzweiflung im Lacrimosa und Hoffnung im Offertorium, Sanctus und Agnus Dei – was das spezifisch Protestantische an diesem Requiem sein soll, erschließt sich heute nur Experten und auch das zu wenig ausführliche Beiheft bietet kaum Aufklärung zur kirchengeschichtlichen Einordnung und Grundidee des Werks. Kiel mag sein Requiem mit Orchester für den Konzertsaal konzipiert haben, die vorliegende Live-Aufnahme hingegen entstand 2016 in Berlin der Heilig-Kreuz-Kirche mit Klavierbegleitung – so richtig will hier also nichts zusammenpassen. Zu hören ist eine vom Komponisten erstellte zweite Ausgabe des Werks von 1878, die vom Dirigenten dieser Aufnahme in eine nicht vom Komponisten erstellte Klavierfassung der Fassung von 1962 rückeingearbeitet wurde. Diese erste Klavierfassung erstellte Julius Stern, dessen Gesangsverein das Requiem uraufführte und bei sogenannten „stillen Aufführungen“ neue Werke einem kleinen Kreis vorstellte. Auch diese Aufnahme ist eine „stille Aufführung“ mit Klavierbegleitung und ohne Orchester – eine Entscheidung, die dem Zuhörer also nur einen reduzierten musikalischen Einblick gewährt, die südkoreanische Pianistin Sue Baek begleitet mit viel Einsatz und Leidenschaft, um diesen Mangel etwas zu kompensieren. Reduziert wird der Einblick zusätzlich durch die ordentlich agierenden, aber nie Aufmerksamkeit erregenden Sänger: weder Christina Bischoff (Sopran), Anja Schumacher (Alt), David Ameln (Tenor) und Matthias Jahrmärker (Bass) noch das ensemberlino vocale unter seinem Leiter Matthias Stoffels gelingt es, diese Rarität nachhaltig zu beleben. (Rondeau, ROP 6141Marcus Budwitius