Viktorianische Empfindlichkeiten waren es, die Antonin Dvorák bewogen, seine 1885 für England komponierte Kantate für Soli, Chor und Orchester op. 69 Die Geisterbraut zu nennen. Der Titel der als Vorlage dienenden Ballade von Karel Jaromir Erben war „Svatebni Košile“, wörtlich: „Die Brauthemden“. Aus heutiger Sicht erscheint solche Prüderie unwirklich. Dieses Werk steht mit seinem seltsam zwitterhaften Charakter irgendwo zwischen kurzer Oper und Oratorium. Die Handlung entbehrt durchaus nicht des im neunzehnten Jahrhundert so beliebten Gruselfaktors, geht es doch um ein junges Mädchen, das von seinem untoten Geliebten nach einer wilden Jagd durch die Nacht beinahe zu einer mitternächtlichen Hochzeit auf einem gespenstischen Friedhof gedrängt wird. Sie selbst flehte um seine Rückkehr und wollte lieber sterben, als ohne ihn zu leben. Nach und nach entledigt sie sich des Gebetbuches, des Rosenkranzes und schließlich gar ihres goldenen Kreuzes. Erst zuletzt erkennt sie ihren Irrtum. Allein ihr unerschütterlicher Glaube, gipfelnd in einem stillen Gebet zur Jungfrau Maria, kann sie schließlich vor einem ähnlich furchtbaren Schicksal bewahren. Der moralisierende Stoff mag dem streng katholischen Dvorák entgegengekommen sein.
Das österreichische Plattenlabel Capriccio legt jetzt eine brandaktuelle Neueinspielung vor, die sich insgesamt grofler Meriten erfreut (C5315). Der Chor, hier die exzellente Wiener Singakademie (Einstudierung: Heinz Ferlesch), spielt eine ganz wesentliche Rolle und trägt, das Geschehen kommentierend, zur unheimlichen Atmosphäre gehörig bei. Expressiv und gefühlvoll in der Titelrolle die Sopranistin Simona Šaturová, verführerisch und gar nicht abschreckend der Tenor Pavel Breslik als der Tote. Deutlich ehrfurchtgebietender Adam Plachetka als wortgewaltiger Erzähler. Tatsächlich spielt eher der Bassbariton die männliche Hauptrolle.
Nach einer aufwühlenden Introduktion folgen insgesamt achtzehn nahtlos ineinander übergehende Vokalnummern. Prächtig und mit dem nötigen Temperament das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter seinem Chefdirigenten und künstlerischen Leiter Cornelius Meister, der mit seinem feurigen Dirigat den leidenschaftlichen Charakter der Kantate unterstreicht. Sehr gut auch der Klang dieser an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Juni 2016 im Wiener Konzerthaus entstandenen Live-Aufnahme. Weniger vorbildlich die Gestaltung des Booklets: Der Text ist nur auf Tschechisch und Englisch abgedruckt, die einzelnen Track-Namen gar nur in tschechischer Sprache. Auf Deutsch nur die knappe Werkeinführung und die Künstlerbiographien. Das geht bei einer österreichischen Produktion besser. Daniel Hauser