Franco Fagioli gilt aufgrund seines Stimmumfangs und seiner spektakulären Technik als einer der virtuosesten Countertenöre unserer Zeit, er ist auf jeden Fall der wagemutigste Sänger seiner Stimmklasse – er traut sich an Arien und Rollen, für die kaum eine andere männliche Counterstimme in Frage kommt. Sein Repertoire umfasst schon längst nicht mehr nur die barocken Kastratenrollen von Monteverdi, Cavalli, Vivaldi, Vinci, Händel und Hasse über Gluck bis Mozart (Fagioli sang Idamante in Covent Garden mit Minkowski und Sesto in Nancy, beide 2014), sondern auch Rossini – dessen einzige Rolle für einen Kastraten (für Giambattista Velluti) begleitet Fagioli schon seit einigen Jahren: 2011 sang er beim Festival della Valle d’Itria den Arsace in einer szenischen Aufführung von Rossinis Aureliano in Palmira, 2014 präsentierte er bei den Salzburger Pfingstfestspielen Arien daraus und bekam begeisterte Kritiken. Da das Verschwinden des Kastratentums in die Zeit des frühen Belcanto fällt (u.a. Napoleon hatte es verboten), musste Rossini sie gezwungenermaßen ersetzen – Altistinnen übernahmen die Rollen junger Männer, die üblicherweise den Kastraten vorbehalten waren.
Zu dem „Contralto musico“ zählten auch Mezzosoprane, die damals nicht als Stimmgattung betrachtet wurden. Fagioli stößt nun in dieses Repertoire vor, 2017 wird an der lothringischen Oper von Nancy sein Auftritt in der Hosenrolle des Arsace in Semiramide folgen. Auf der bei Deutsche Grammophon erschienen CD mit Rossini-Arien kann man sich von dieser Rollenerweiterung einen Eindruck verschaffen. Fagioli singt Ausschnitte aus sechs Opern aus Rossinis italienischer Phase, die zwischen 1812 und 1823 uraufgeführt wurden. Die CD beginnt mit einer Arie des Siveno aus Demetrio e Polibio (Rossinis erster Opera seria), „Pien di contento in seno“ handelt von schmachtender Liebesvorfreude, die Fagioli hingebungsvoll präsentiert. Die folgende Kerkerszene des Edoardo aus dem 2. Akt von Matilde di Shabran „Sazia tu fossi alfine“ / „Ah, perché, perché la morte“ beinhaltet eine spannende Steigerung. Aus Adelaide di Borgogna, Rossinis Oper über die heiliggesprochene Adelheid von Burgund und ihren Gemahl, den deutschen Kaiser Otto I. sind zwei große Ausschnitte des Ottone zu hören, zuerst die große Szene mit Chor „Serti intrecciar le vergini“ / „Questi che a me presenta“ / „Vieni, tuo sposo e amante“ / „Al trono tuo primiero“ aus dem 2. Akt sowie „Salve, Italia“ / „O sacra alla virtù“ / „Soffri la tua sventura … Amica speme“ aus dem ersten Akt. Aus Tancredi hat sich Fagioli nicht das berühmte „Di tanti palpiti“ ausgesucht (das der Sängerin der Premiere erst zu effektlos vorkam und deshalb von Rossini alternativ ersetzt wurde), sondern die umfangreichere B-Variante „O sospirato lido“ / „Dolci d’amor parole“, die dann doch nicht für die Uraufführung erwählt wurde und von Rossini später in der Italienerin in Algier und Sigismondo weiterverwertet wurde. Semiramide ist Rossinis letzte Opera seria für Italien, Arsaces „Eccomi alfine in Babilonia“ und die darauf folgende Kavatine „Ah, quel giorno ognor rammento“ ist eine übliche Auftrittsarie, die nach der Scena und einem gemächlichen Auftakt mit reicher Verzierung in einer rasanten Kabaletta mündet. Den Abschluss der CD macht die kaum bekannte Pasticcio-Oper Eduardo e Cristina, in der Rossini aus Zeitnot u.a. einiges aus Adelaide di Borgogna verarbeitete. Auch hier gibt es eine virtuos gesungene Kerkerszene mit Chorbegleitung aus dem zweiten Akt „Nel misero tuo stato“ / „Ah! Chi sa dirmi se la sposa“ / „La pietà che in sen serbate“.
Ob man Countertenöre oder speziell Fagiolis Timbre mag, sei dahingestellt, der Argentinier zeigt sich auf der Höhe seine Kunst, sein Vortrag ist geschmeidig und elegant. Seine Stimme hat schon immer eine schöne Höhe, in der Tiefe hat er hinzugewonnen, sie ist fester und gestandener geworden. Seine technischen Finessen, die Verzierungsfähigkeit und Koloraturen, die man aus seinem Barock-Repertoire kennt, überträgt er auf die Rossini-Arien. Er beweist vielfältige stimmliche Ausdrucksmöglichkeiten, er kann klagen und schluchzen, schmachten und locken, appellieren und attackieren. In seiner Diskographie scheint diese Rossini-CD ein weiterer Meilenstein zu werden. Daß diese Rossini-CD hörenswert ist, verdankt sie auch der gleichrangigen musikalischen Begleitung durch Chor und Orchester der Armonia Atenea und dessen Dirigenten George Petrou, die man bspw. nach Auftritten bei den Salzburger Pfingstfestspielen und bei den London Proms oder auch bei den Karlsruher Händel Festspielen bei Max E. Cencics Arminio (die vorangegangene CD Einspielung hat zu Recht den Preis der Deutschen Schallplattenkritik verliehen bekommen) als Senkrechtstarter der letzten Jahre bezeichnen kann und die innerhalb weniger Jahre als griechisches Erfolgsmodell Respekt und Hochachtung verdient haben. Auch für Fagiolis Rossini entwickeln die Musiker einen zupackenden Schwung und klingen nie nur begleitend oder nebensächlich, sondern leisten einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung mit gelegentlichen virtuosen Solomomenten – zwei Hornsoli sowie ein Violinsolo sind bemerkenswert schön gelungen. Bei vielen Zuhörern dürfte der Funke von Sänger und Musikern überspringen. Eine Aufnahme, die neugierig macht und nun den Blick auf die reale Bewährungsprobe richtet: Fagiolis Arbace in Semiramide an der Opéra national de Lorraine, die im Mai 2017 einige Touristen anziehen dürfte, die den Rollenwechsel auch live erleben wollen. Für Fagioli sollte es hinsichtlich seiner weiteren Bühnenkarriere ein wichtiger Meilenstein werden, ganz gemäß dem klassischen Motto „Hic Rhodus, hic salta“. (DG 4795681) Marcus Budwitius