Von dem berühmten italienischen Musikologen Rodolfo Celletti einst ins Leben gerufen, um den italienischen Belcanto durch die Aufführung fast oder ganz vergessener Opern der entsprechenden Epoche wiederzubeleben, ist das Festival della Valle d’Itria in Martina Franca, einem Städtchen in Apulien, heute unter anderem auch ein Anwalt modernerer Musik geworden – oder von dem, was man in Italien dafür hält. Das kleine, aber äußerst feine Festival hat sich insofern geändert, dass nicht mehr wie in den Achtzigern oder Neunzigern regelmäßig der Strom ausfällt und zu Unterbrechungen von Aufführungen führt, aber der Verzicht auf Kinos ohne Klimaanlage als Aufführungsort der Opern bei schlechtem Wetter besteht nach wie vor. Sonst hat sich in den letzten 20 Jahren kaum etwas in diesem malerischen Städtchen mit seinen weißgewaschenen Mauern und engen Gassen geändert. Höchst stimmungsvoll aber waren schon immer die Vorstellungen im Cortile des Palazzo Ducale und die gesamte Gegend sehenswert wegen der typischen apulischen Trulli, kleiner Rundbauten aus Stein mit interessanter Geschichte, besonders im nahe gelegenen Alberobello.
Im Sommer 2015 wurde als gemeinsames Auftragswerk mit dem Maggio Fiorentino der Einakter Le Braci (Die Glut) von Marco Tutino, 1954 in Mailand geboren, uraufgeführt und ist nun, leider nur als CD, bei Dynamic erschienen. Das Libretto wurde vom Komponisten nach der Novelle Le Candele si consumano lentamente (Die Kerzen brennen langsam hinunter) verfasst, vom ungarischen Schriftsteller Sándor Márai in dessen Muttersprache geschrieben. Es ist eigentlich eine der üblichen Dreiecksgeschichten, aber interessant durch die Mischung von Vergangenheit und Gegenwart (1940), zwischen denen rund vierzig Jahre liegen. Der General Henrik und sein Freund Konrad, verwandt mit Chopin und selbst Pianist, treffen sich in einem Schloss unterhalb der Karpaten, in dem sie gemeinsam ihre Jugend verbrachten, nach vierzig Jahren Trennung wieder, nachdem ihre Freundschaft dadurch zerbrach, dass Konrad mit der Gattin Henriks, Kristina, ein Verhältnis begonnen hatte. Henrik quält der Gedanke, dass Konrad vorgehabt haben könnte, ihn während einer Jagd zu töten. Gewissheit könnte er durch das Tagebuch Kristinas erlangen, aber er verzichtet darauf und wirft es in die Glut des Kamins. Die beiden Freunde reichen sich schweigend die Hand, ein Epilog der alten Haushälterin beschließt das Werk.
Die beiden Hauptpartien werden jeweils von zwei Sängern gesungen, wobei dem Bass Henrik als dessen jugendliche Ausgabe ein Bariton, dem Bariton Konrad ein Tenor zugesellt ist. Die Musik ist überaus effektvoll, erinnert häufig an Filmmusik, scheut nicht ein überdimensionales Pathos, eine Art Überverismo, bedient sich aber auch des Walzers, wobei insgesamt die Musik der jugendlichen Ausgaben der beiden Helden romantischer und melodiöser ist als der eher deklamatorische Stil, dessen sich besonders Henrik bedient. Francesco Cilluffo und das bewährte Orchestra Internazionale d’Italia holen alles an Gefühlsaufwallungen heraus, was in der Komposition in Überfülle vorhanden ist. Roberto Scandiuzzi ist der richtige
Sänger für die anspruchsvolle Partie des Hendrik, deren dramatische, nicht selten plakative Ausbrüche er höchst wortverständlich und nur leicht eingeschränkt durch eine etwas schütterer gewordene Stimme meistert und für die er die vokale Autorität besitzt. Sein Alter ego ist mit markig klingendem Bariton Pavol Kuban. Den Freund und Kontrahenten singt Alfonso Antoniozzi mit legatofrohem Bariton, dessen jugendliche Fassung gibt mit lyrischem Tenor Davide Giusti. Einen frischen, klaren Sopran setzt Angela Nisi für die Kristina ein, die zu Zeiten des Wiedersehens der beiden Freunde bereits das Zeitliche gesegnet hat. Der neunzigjährigen Haushälterin Nini wird durch Romina Tomasoni ein gar nicht ältlicher Mezzosopran zuteil. Das Booklet ist leider wieder mal ohne Libretto (wie das bei Dynamic so üblich ist, das war auch mal anders), allerdings mit ansonsten informativem Text in Italienisch und Englisch versehen (Dynamic CDS 7736/1-2). Ingrid Wanja