Gipfelstürmer

 

Kein Unbekannter auch hierzulande ist der italienische Countertenor Filippo Mineccia, der bereits bei den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci in der Friedenskirche aufgetreten ist und bei den letztjährigen Händel-Festspielen Halle mit großem Erfolg die Titelrolle in Händels selten gezeigter Oper Lucio Cornelio Silla verkörperte. Nach seiner Debüt-CD Alto Arias bei Pan Classics mit Musik von Leonardo Vinci legt er nun bei Glossa eine weitere Platte vor, die sich unter dem Titel London ganz dem kompositorischen Schaffen von Attilio Ariosti widmet (GCD 923506). Als Komponist, Musiker, Diplomat und Mönch war dieser eine schillernde Persönlichkeit seiner Zeit. Er lebte von 1666 bis 1729 und wirkte in Mantua, Berlin, Wien und Paris, bevor er nach London ging, wo er für gefeierte Sängerstars, wie die Sopranistin Francesca Cuzzoni und den Kastraten Senesino, schrieb. Für Letzteren entstanden allein drei Drammi per musica, die alle auf der CD mit jeweils mehreren Arien vertreten sind.

Frühestes Werk ist Tito Manlio, uraufgeführt 1717. Daraus singt Mineccia drei Ausschnitte: „Venga pur quel sì terribile“, „Col nemico di mia pace“ und „Aure care“. Mit sinnlich vibrierender Stimme, vehementer Attacke und zärtlich kosendem Ton vermag er allen Arien in ihrem unterschiedlichen Charakter gerecht zu werden. 1723 entstand Caio Marzio Coriolano, aus dem ebenfalls drei Stücke erklingen. „Perdonate“,Spirate, o iniqui“/„Voi d’un figlio“ und „In spero che in quei guardi“. Hier imponieren der expressive Vortrag und der virtuose Fluss der Koloraturen. 1724 kam Vespasiano zur Uraufführung, aus dem zwei Szenen zu hören sind: „Sorga pur l’oppressa Roma“ und „Premera soglio di morte“ – beide kontrastreich in der Gestaltung und bravourös im Vortrag. Noch zwei weitere Opern erlebten in London ihre Premieren: Aquilio Consolo 1724, aus dem das lebhafte „Rinasce amor“ zu hören ist, und Dario ein Jahr später, aus dem das virtuose „Voi del ciel“ ertönt.

Die Auswahl wird ergänzt durch Werke, die für Wien entstanden: I gloriosi presagi di Scipione (1704) und La madre de’ Maccabei (ebenfalls 1704). Aus der ersten tupft Mineccia mit lieblichem Ton „Bella mia“, aus der zweiten erklingen das wiegende, sanfte „Benché l’ultimo al rormento“ und das schmerzlich getragene „Quando il mondo“.

Das Ensemble Odyssee, das den Solisten unter Andrea Friggi inspirierend begleitet, ist auch mit zwei Instrumentalbeiträgen zu hören: Ouverture & Presto aus dem Caio von feierlich-gemessenem Charakter bzw. stürmisch dängendem Pulsieren und die Sinfonia aus La profezia d’Eliseo nell’assedio di Samaria (Wien 1705), die in ihrer rhythmischen Prägnanz, dem kantablen Melos und den raffinierten Fanfarenechos große Wirkung macht. Bernd Hoppe