Max E. Cencic ist nicht nur Sänger und künstlerischer Leiter des Labels Parnassus, inzwischen ist er auch zum Unternehmer geworden: Seine Wanderoper tritt mit barocken Projekten europaweit auf und besorgt sowohl die Inszenierung als auch die CD-Einspielung. Cencic führte sogar selber Regie bei der von der Presse hochgelobten szenischen Aufführung des Arminio im Rahmen der Karlsruher Händel-Festspiele im Februar 2016. Nun ist bei Decca die Studioaufnahme erschienen, mit der Cencic und sein Label Parnassus umfassend den Dornröschenschlaf dieser Oper über Hermann den Cherusker beenden.
Arminio erlebte seine Uraufführung 1737 – in der Saison, in der Händel sich im vierten Jahr dem ruinösen Konkurrenzkampf mit der Adelsoper stellte. Die Stars der Opera of the Nobility waren der Kastrat Farinelli sowie drei Künstler, die bereits 1736 London verlassen hatten: Farinellis Gesangslehrer und Komponist Antonio Porpora, der sechs seiner Opern zwischen 1733 und 1736 in London aufführte (darunter 1735 Polifemo) sowie die abtrünnigen, früheren Händelstimmen des Kastraten Senesino und der Sopranistin Cuzzoni. Händel reagierte auf die Herausforderung der Adelsoper und stellte für die Saison 1736/37 sein vielleicht ambitioniertestes Programm auf die Beine: Acht Opernproduktionen und vier Konzerte erlebte das Theatre Royal im Covent Garden, Händel selber trug drei statt wie sonst üblich zwei neue Opern bei: Arminio, Giustino und Berenice, dazu gab es Wiederaufnahmen aus dem oratorischen Schaffen (Esther, Deborah, Il trionfo del tempo …). Dennoch gingen beide Opernunternehmen bekanntlich pleite. Händels drei Opern aus der letzten Saison am Covent Garden haftete der Ruf an, schwächere Werke zu sein. Der Händel-Experte David Vickers schreibt im Beiheft zu dieser Aufnahme, dass Arminio „von all seinen späteren Arbeiten für das Londoner Theater am seltensten aufgeführt und auch am wenigsten bekannt ist“. Wer stichhaltige Gründe für dieses Nischendasein sucht, wird kaum fündig. Es wurden dramaturgische Schwächen des Librettos angeführt, die Rezitative wurden radikal gekürzt (ca. von 1300 auf 300 Zeilen), eine Maßnahme, die aus heutiger Sicht dazu beitrug, den Handlungsfluss zu beschleunigen. Auffällig ist die Orchesterbehandlung: Keine Flöten, keine Trompeten, keine Pauke, nur sehr wenige Arien haben solistische Begleitung, im zweiten Akt dürfen die Oboen in einer Arie virtuos auffallen, erst im dritten Akt werden die Hörner benötigt. Ansonsten fast eine Kammeroper, Streicher und Basso Continuo dominieren die Akustik der Oper.
Auch bei der szenischen Produktion der Karlsruher Händel Festspiele zeigte sich dies in einer reduzierten Besetzung: wo sonst ca. 40 Musiker sitzen, kam man nun mit deutlich weniger aus. Arminio ist also keine strahlende Heldenoper, die Schlacht im Teutoburger Wald kommt musikalisch nicht vor, vielmehr erscheint Arminio als Familientragödie, als psychologische Geschichte über Treue und Verrat in Zeiten des Umbruchs. Auf CD liegt Arminio seit 2001 bereits vor: Alan Curtis spielte sie mit seinem Complesso Barocco für Virgin Classics ein, eine Aufnahme, die sich von der Neuproduktion der Decca in mehreren Punkten unterscheidet. Decca hat die bessere Aufnahmeakustik, der Klang ist satter und voluminöser als 15 Jahre zuvor. Dirigent George Petrou und das Originalklangensemble Armonia Atenea musizieren eine hochspannende Interpretation. Wo bei Curtis das Cembalo im Vordergrund steht, dominieren bei Petrou die Streicher, wo Curtis zurückhaltend betont und Affekte den Sängern überlässt, phrasiert Petrou stärker, Affekte werden deutlicher ausgearbeitet, bereits in der Ouvertüre zeigt er einen viel stärker dramatischen Gestus, die ruhelosen und gehetzten Streicher ziehen den Zuhörer unmittelbar ins Geschehen, Pathos, Konflikte und Psychologie werden plastisch herausgearbeitet, auch harsche Klänge scheut der Dirigent nicht. Die Ausdrucksvielfalt und -intensität wird erhöht, das erste Duett „Il fuggir, cara mia vita“ gewinnt bspw. eine ganz andere Dimension: wo die Curtis-Aufnahme lediglich Beklommenheit darstellt, hört man nun Aufregung und Angst. Petrou gelingt in der Neuaufnahme ein doppeltes orchestrales Kunststück: Die Figuren werden menschlicher, die Affekte unmittelbarer, trotz eingeschränkter instrumentaler Vielfalt, langweilt man sich nicht beim Zuhören; der Dirigent schafft dies ohne übertriebene Temposteigerung – abgesehen von individuellen Schwankungen, sind Curtis und Petrou in dieser Hinsicht nicht weit auseinander. Auch sängerisch hat Decca die Nase vorn. Curtis konnte bei der Aufnahme im Jahr 2000 vor allem mit zwei Stimmen überzeugen: Vivica Genaux als Arminio und Geraldine McGreevy als Tusnelda hört man auch heute noch gerne zu.
Die Neuproduktion ist ausgeglichener, für jede Rolle hat man eine individuelle, unverwechselbare Stimme. Man setzt auch wie zu erwarten auf Countertenöre, Curtis hatte noch zwei Sängerinnen für die großen Kastratenrollen Arminio und Sigismondo engagiert. Die Hauptrolle des Arminio übernimmt Max E. Cencic. Eine Rolle, die 1737 für den Altkastraten Domenico Annibali geschaffen wurde und die mit ihren stimmlichen Herausforderungen bei Cencic in besten Händen ist. Die Arien sind von Händel in nobler Haltung komponiert, der germanische Held befindet sich die meiste Zeit in römischer Gefangenschaft, Cencic vermittelt vorbildlich plastisch Aufbegehren, Seelengröße und Todesbereitschaft, man höre sich bspw. seine drei Arien des zweiten Akts „Duri lacci“, „Si, cadrò, ma sorgerà“ und „Vado a morir“ an. Als Arminios Ehefrau Tusnelda lässt die schöne Stimme der kanadischen Sopranistin Layla Claire aufhorchen, sie meistert bravourös die Herausforderung, mehrere Moll-Arien ausdrucksstark gefühlvoll zu singen, „Rendimi il dolce sposo“ am Ende des zweiten Akts ist einer der Höhepunkte der Neueinspielung. Ideal besetzt hat man auch die Rolle des Sigismondo, die von Händel für den Soprankastraten Gizziello komponiert wurde. Mit Vince Yi hat man eine faszinierende Stimme gewählt, die man mit einem weiblichen Sopran verwechseln kann. Yi singt im zweiten Akt die effektvollste Bravourarie der Produktion „Quella fiamma“, die auch als seltene Ausnahme dieser Händel Oper ein virtuoses Solo-Instrument (eine Oboe) fordert. Für Sigismondos Partnerin Ramise hat man mit der warmen Stimme der Mezzosopranistin Ruxandra Donose eine sehr gute Wahl getroffen. Die kleineren Rollen sind auffällig besetzt, dass Bassist Petros Magoulas als Segeste nur eine Arie hat, ist fast schon Verschwendung, ebenso Juan Sancho, der als römischer General Varo im dritten Akt mit „Mira il ciel“ eine der auffälligsten, mit zwei Hörnern, Oboe und Fagott besetzte Arie hat und mit energiegeladenem Tenor überzeugt. Der dritte Countertenor im Bunde ist kein Unbekannter: Xavier Sabata hat nur zwei Arien, die er gewohnt stimmschön und sicher präsentiert. Zusammengefasst: eine lebendige, spannende und empfehlenswerte Neueinspielung mit Referenzstatus. (2 CDs, ca. 150 Minuten, DECCA 478 8764) Marcus Budwitius