Johann Simon Mayr gilt als wichtiger Reformer der Operngeschichte – er war einer der erfolgreichsten Opernkomponisten um 1800. In letzter Zeit wird er wiederentdeckt – beim Label Naxos ist seine allererste Oper Saffo erschienen (im Mitschnitt der Aufführung in Neuburg 2014, so auch die Rezension dazu). Mayr war wie sein berühmtester Schüler Donizetti ein Vielschreiber, und ich habe nicht das Gefühl, dass nun jedes seiner Werke eine große Erleuchtung für uns im 21. Jahrhundert ist oder dass sich das Rossini-Festival in Pesaro wegen der Konkurrenz warm anziehen muss. So faszinierend der Reformer Mayr auch ist: Manches bleibt – neben genialen Werken wie der Medea – für mich doch blass, grade für uns heute, die wir die souveräne Musik seiner Nacheiferer kennen.
So recht übergesprungen ist der Funke hier nicht bei mir. Denn dies ist nicht nur eine schwächere, sondern eine Erstlingsoper, und Erstlingsopern sind fast immer nur von akademischem Interesse. Ausnahmen wie Mascagnis Cavalleria rusticana bestätigen die Regel. So auch hier – man hört wuselnde Chorszenen und hübsche Ensemble, die zwar für 1794 sehr neuartig und ungewöhnlich sind, aber auch nicht so genial erfunden, dass sie lange im Ohr hängenbleiben. Immerhin: Auch wenn hier in der Saffo noch viel Mozart und alte Opera Seria unterwegs ist, so spürt man doch schon einen Hauch von dem, was wir später bei Rossini oder Donizetti finden.
Eine weitere Enttäuschung ist der Plot. Man könnte da einen Skandalstoff fürs Teatro La Fenice in Venedig vermuten, denn diese Saffo ist niemand andres als Sappho, die antike Lyrikerin, die auf der Insel Lesbos eine Schar von weiblichen Fans um sich versammelte. Die Gerüchte darüber, dass das nicht nur intellektuelle Beziehungen waren, wollen bis heute nicht verstummen, Ihretwegen haben die Attribute sapphisch oder lesbisch die entsprechende Bedeutung.
Aber das ist natürlich nicht das Thema einer Oper des späten 18. Jahrhunderts, sondern eine andere Sappho-Legende, dass sie sich nämlich in den wunderschönen Jäger und Fährmann Phaon verliebt, der aber nicht in sie verliebt ist. In der Originalversion dieser Legende geht alles ziemlich dramatisch zu Ende, Sappho springt, ähnlich wie Tosca, wenn ich mich recht entsinne, irgendwo herunter, wo ein Überleben laut Newtonschen Gesetzen recht unwahrscheinlich ist. Das alles gibt es hier nicht – dafür gibt es ein lauwarmes Happy End. Manch ein Belcanto-Fan hat vielleicht auch die heroische Saffo von Pacini im Ohr. Das wäre schlecht, denn dagegen fällt dieses Erstlingswerk doch sehr ab. Und da wendet man sich doch eher der Lodoiska unter Petrou bei Oehms Classics zu.
Warum fast nur der frühe Mayr bei Naxos? Mayr-Dirigent und -Enthusiast Franz Hauk, der drei Viertel aller Mayr-Ausgrabungen der letzten 20 Jahre eingespielt hat, scheint insgesamt in letzter Zeit ein wenig an Schwung und Esprit verloren zu haben. Auffallend ist nicht nur die Humorlosigkeit der Naxos-Werk-Auswahl (Mayr war einer der bedeutendsten Buffo-Komponisten seiner Zeit, davon spürt man nichts), sondern auch das Gewicht auf dem Frühwerk. Da frage ich mich: Es gibt so viele Opern von Mayr; muss es immer dieser frühe Kram sein, aus einer Zeit, in der der Komponist noch um den eigenen Stil ringt? Er ringt und ringt jetzt schon seit Jahren bei Naxos, ein musikalischer Peter Pan, der langsam wirklich mal erwachsen werden könnte. Das ist so, als würde man bei Wagner das Repertoire nach dem Holländer ignorieren.
Hätte man das Geld für diese Saffo-Aufführung in Neuburg von 2014, so frage ich mich, nicht besser für eine spätere Oper aus den Jahren der Meisterschaft ausgeben können? Auch die musikalische Umsetzung wirkt diesmal seltsam matt. Das ist sicher gar nicht mal nur die Schuld der Sänger, auch wenn man sagen muss, dass Markus Schäfer einfach zu alt für die Rolle des Alceo klöingt und Andrea Lauren Brown in der Titelpartie zwar große lyrischen Qualitäten besitzt, in den Koloraturen aber sehr angestrengt wirkt. Vor allem hat mich diesmal Franz Hauk enttäuscht, der dann vielleicht doch das eine oder andere Oratorium zu viel geleitet hat. Seine Saffo klingt über weite Strecken starr und höflich (vielleicht auch anders als im Konzert, das muss man konzidieren). Man hätte dieses Werk nur durch die Flucht nach vorn retten können – durch flotte Tempi und vital agierende Solisten. So bleibt das Ganze doch eine eher blasse Episode im sonst so lebendigen und abwechslungsreichen Katalog des Labels Naxos (Johann Simon Mayr: Saffo, Oper in zwei Akten, mit Andrea Lauren Brown, Jaewon Yun, Marie-Sande Papenmeyer, Katharina Ruckgaber,Markus Schäfer, Mitglieder des Chors der Bayrischen Staatsoper, Concerto de Bassus; Leitung: Franz Hauk, Naxos 2 CD 8.660367-68, Libretto zum Dowenloaden). Matthias Käther