Fast alles

 

Antonin Dvorak (1841-1904) gehört heute zu den beliebtesten Komponisten in der Welt, weil er die besondere Fähigkeit besaß, großen eigenen Melodienreichtum, angereichert mit tschechischer Volksmusik, und die klassischen Formen der Sinfonik und Kammermusik nahezu ideal zu verschmelzen. Die 2015 neu zusammengestellte und auf 45 CDs erweiterte Box von Brillant Classics (aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen, darunter ältere Aufnahmen von Berlin Classics u. a.)  ist z.Zt. die umfangreichste Sammlung seiner Werke.

dvorak brilliantDen ersten Bereich bilden die CDs 1-11 mit sinfonischen Werken. Dabei sind natürlich die Sinfonien, in den Jahren 1979-82 komplett eingespielt von der markanten Staatskapelle Berlin unter der kompetenten Leitung von Otmar Suitner, der auch die unbekannteren ersten Sinfonien erfolgreich zum Klingen bringt. Für die drei Solokonzerte und vier Einzelstücke für Violine, bzw. Cello und Orchester hat man ältere Einspielungen mit dem Saint Louis Symphony Orchestra unter Walter Susskind mit den legendären Solisten Ruggiero Ricci (Violine), Zara Nelsova (Cello) und Rudolf Firkusny (Klavier) ausgewählt, die in ihren Interpretationen den jeweiligen Charakter der Stücke sehr gut getroffen haben. Für Ouvertüren, Suiten und weitere sinfonische Kompositionen (CD 8-10) fiel die Wahl der Interpreten auf das tschechische Janacek Philharmonic Orchestra, das 2004 die nationale Melodik unter dem anfeuernden Theodore Kuchar kontrastreich herausarbeitete. Die Slavischen Tänze Op.46 und 72 (CD 11) werden von Antal Dorati und den Bamberger Sinfonikern 1974/75 teils schwungvoll mitreißend, teils schwermütig seufzend, aber stets durchsichtig strukturiert musiziert. Wer die Streicherserenade E-Dur op.22 vermisst, die ist auf CD 43 gleich nach dem Requiem untergebracht!

In der Sammlung ist auf CD 26-36 die Kammermusik für Streicher fast vollständig enthalten; es sind die beiden Terzette, alle Streichquartette, zwei der drei Streichquintette und sowie kleinere Werke für unterschiedliche Besetzungen; von den gewichtigeren Werken fehlt nur das Streichsextett op. 48. Bis auf die „Miniaturen“ op.75a wird dies alles vom 1985 gegründeten Stamitz Quartett aus Prag gespielt. Es handelt sich dabei um Lizenzaufnahmen aus den späteren 1980er- und frühen 1990er-Jahren, ursprünglich bei Bayer Records erschienen; bereits 2002 und auch 2013 (hier neben Quartetten von Smetana, Martinu und Janacek) hatte Brilliant Classics  diese Aufnahmen schon einmal veröffentlicht.

Solche Gesamt-Editionen geben die schöne Gelegenheit, die kompositorische Entwicklung von den frühen Versuchen bis zum Reifestil in sich aufzunehmen, was gerade bei Dvoraks Streichquartetten besonders reizvoll ist:  Die drei frühen Streichquartette Nr.1-3, wahrscheinlich 1862 und 1869/70 entstanden, sprengen mit ihrer Länge (mit über 70 Minuten ist Nr.3 das längste Streichquartett des 19. Jahrhunderts) den üblichen Quartett-Rahmen. Das liegt wohl an Dvoraks „Wagner-Experimenten“, indem er die wagnerische „unendliche Melodie“ durch alle Sätze zieht und eine komplizierte Motivstruktur aufbaut. Das Stamitz Quartett musiziert dies alles trotz intensiver Klangdichte sehr gut durchhörbar, sodass auch die hier bereits auftauchenden, böhmisch anmutenden Phrasen nicht verborgen bleiben. Ab 1873 versucht Dvorak mit den Quartetten Nr.5 + 6 (op.9 + 12), sich dem Einfluss Wagners zu entziehen und eine eigene Tonsprache in klassisch-romantischer Tradition unter Einbeziehung tschechischer Volksmusik zu entwickeln. In den Jahren 1874 bis 1877 entstanden die drei Quartette Nr.7-9, bis Dvorak mit dem anders als deren  Vorgängerinnen schnell populär gewordenen, 1878/79 komponierten Quartett Nr.10 op.51 endgültig seinen eigenen Kompositionsstil gefunden hat. Etwa zur selben Zeit schrieb er zwei Klavierwalzer für Quartett oder Streichorchester um (op.64), die das Stamitz Quartett mit lockerer Leichtigkeit erklingen lässt. Gelungen und rundum überzeugend sind die Deutungen der berühmtesten der Dvorak-Quartette, das schon erwähnte „slawische“ (op.51) und besonders das „amerikanische“ (op.96). Ein Unikum in der Streichquartett-Geschichte sind die „Zypressen“, 1887 nach bereits 1865 entstandenen 12 Klavierliedern komponierte 12 Stücke für Streichquartett, die als kleine „Lieder ohne Worte“ durch Schlichtheit und Kantabilität ansprechen.

Die beiden bedeutenden Streichquintette Nr.2+3 op.77 mit Kontrabass und op.97 mit 2.Viola bereichern in exemplarischen Interpretationen die Sammlung. Dvorak hat zwei Streichtrios komponiert, sie aber wegen der insoweit ungewöhnlichen Besetzung mit 2 Violinen und Viola Terzett genannt. Das deutet darauf hin, dass sie für eine besondere Stilebene stehen, nämlich für die Hausmusik und weniger für den Konzertsaal mit der großen Kammermusik. Fein ausmusiziert werden das 1887 entstandene Terzett op.74 mit seiner liedhaften Atmosphäre und die unmittelbar anschließend komponierten „Miniaturen“ op. 75a (zu finden auf CD12 mit kleineren Kammermusik-Werken für unterschiedliche Besetzungen).

CD 15-19 enthalten die seit 2005 bereits mehrfach von Brilliant Classics veröffentlichten Kompositionen für Klavier solo, die Inna Poroshina 1997/98 in Kiew eingespielt hat (erstmalig 1999 beim Label Essay erschienen). Die Klavierwerke stehen deutlich im Schatten von Dvoraks Sinfonien und der Kammermusik, sind aber bei der technisch und interpretatorisch versierten Pianistin in guten Händen. Die Werke für Klavier vierhändig dagegen haben kompositorisch ein hohes Niveau, das man den Pianisten Ingryd Thorson und Julian Thurber in den Slawischen Tänzen, den Legenden op.59 und im Zyklus „Aus dem Böhmerwald“ op.68 auch bescheinigen kann (CD 20/21 – Aufnahmen in Oslo Dezember 1989 und Juni 1990).

CD 13-14 + 22-25 enthalten Dvoraks Kammermusik mit Klavier, zuerst die Sonatine op.100 und die Sonate für Violine und Klavier op.57, die Bohuslav Matousek und Petr Adamec mit einigen kleineren Werken für diese Besetzung im Dezember 1992 aufgenommen haben.  Die vier Klaviertrios zählen nach den Streichquartetten zu Dvoraks wichtigsten kammermusikalischen Werken; in leicht halligen Aufnahmen (1980 London) vom soliden Cohen Trio gehören sie zur Sammlung. Die jeweils zwei  Klavierquartette sind 2008, die Klavierquintette schon 1999/2000 vom bedeutenden Prager Vlach Quartett eingespielt worden, beides authentische Aufnahmen.

Unter den Vokalwerken findet man zunächst Duette und Chöre (CD 37-39, 2005 eingespielt), deren böhmische Folklore in der Originalsprache durch den Einsatz der Prague Singers und tschechischer Solisten unter Leitung von Stanislav Mistr Dvoraks Klangideal entsprechen; dazu gehören u.a. Moravian Duets op.20, 29, 32 und 38 sowie selten zu hörende Chöre und Lieder, teilweise Weltersteinspielungen. Sehr schade ist es, dass die Zigeunerlieder op.55, die Liebeslieder op.83 und die biblischen Lieder op.99 (CD 40) von Peter Schreier in deutscher Sprache gesungen werden; wenn man sie als einzige schon nicht im tschechischen Original bringt, dann wäre zumindest bei den biblischen Liedern die heutzutage bevorzugt gesungene Übersetzung von Dietrich Fischer-Dieskau am Besten gewesen, da sie sich besonders eng an dem Klangbild der Urfassung Dvoraks orientiert.

Von den geistlichen Chorwerken haben das Stabat Mater op.58 und das Requiem op.89 sowie die Vertonung des 149. Psalms op.79 Aufnahme in die Sammlung gefunden (CD 41-43). Das Stabat Mater, in dem Dvoraks Trauer um den Tod dreier eigener früh verstorbener Kinder innigen Ausdruck findet, erklingt in einer Aufnahme des Washington Chorus and Orchestra unter Robert Shafer aus dem Jahre 2000; Sopranistin Christine Brewer , Mezzo Marietta Simpson, Tenor John Aler und Bariton Ding Gao erfüllen ihre Soloparts mit großer Intensität. Das 2012 in Warschau aufgenommene Requiem wird von dem Warschauer Philharmonischen Orchester und Chor unter Antoni Wit mit den Solisten Christiane Libor, Ewa Wolak, Daniel Kirch und Janusz Monarcha ebenfalls tief empfunden präsentiert.

Von den 10 Opern Dvoraks hat es nur Rusalka geschafft, weltbekannt und in diese Sammlung (CD 44/45) aufgenommen zu werden. Die Einspielung fand im Dezember 1997 in Zagreb statt mit dem Akademiechor „Ivan Goran Kovacic“ und dem Zagreber Philharmonischen Orchester unter der stringenten Leitung von Alexander Rahbari. Ursula Füri-Bernhard (Rusalka), Marcel Rosca (Wassermann), Nelly Boschkova (Hexe), Walter Coppola (Prinz) und Tiziana K.Sojat (Fremde Fürstin) sind adäquate Protagonisten dieser Aufnahme. Für Fans: Im Handel sind übrigens Aufnahmen von weiteren sieben Opern Dvoraks erhältlich! Darunter sind die gelegentlich aufgeführten „Wanda“, „Der Jakobiner“ und „Die Teufelskrähe“. Um die Bandbreite Dvoraks und seine Entwicklung über Jahrzehnte in allen musikalischen Bereichen zu verfolgen und zu vergleichen, ist diese Box bestens geeignet, zumal sie wirklich erstaunlich preiswert ist (Brilliant Classics 95100, 45 CDs). Marion und Gerhard Eckels