STILISTISCHE VIELFALT

 

Wer den Komponisten Erich J(acqes) Wolff (1874-1913) bislang nicht kannte, muss sich deshalb keiner gravierenden Bildungslücke schämen, aber er hat ewas verpasst. Eine Gesamtedition seiner Lieder in der Bella Musica-Reihe der Firma Thorofon lässt uns einen mit allen Wassern gewaschenen Meister der kleinen Form neu entdecken.

Bis vor wenigen Jahren war der zu seiner Zeit berühmte Komponist und Klavierbegleiter so prominenter Sänger wie Elena Gerhardt, Nelson Eddy, John Charles Thomas und Julia Culp (der er zahlreiche seiner Lieder widmete) im deutschsprachigen Raum völlig in Vergessenheit geraten. In den Vereinigten Staaten, wo er 1913 im Alter von 38 Jahren völlig unerwartet an den Folgen einer Ohrenoperation starb, werden seine Werke gelegentlich noch aufgeführt. Die amerikanische Sopranistin Rebecca Broberg stieß während ihres Studiums in Baltimore durch Zufall auf eine Komposition von ihm. Das war der erste Auslöser für eine Wiederentdeckung seines Oeuvres, die sie seither zusammen mit dem entdeckungsfreudigen Musikwissenschaftler und Regisseur Peter P. Pachl systematisch betreibt. „Ein neues Wunderland der Sehnsucht“ ist bereits das vierte Album der genannten Edition (das fünfte gar, wenn man „Zauberdunkel und Lichtazur“ mitrechnet, wo 9 Wolff-Titel mit Liedern seiner Zeitgenossen Anton Urspruch und Ludwig Thuille gekoppelt sind).

Die Mühe des Ausgrabens hat sich gelohnt. Wolff ist zu Unrecht ins musikgeschichtliche Abseits geraten. Seine Kompositionen, insbesondere die Lieder, sind vom Geist des Fin de siècle geprägt, setzen die Anregungen durch Bewegungen wie Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus und vor allem Jugendstil musikalisch phantasievoll um. Wie Gustav Mahler ließ er sich von Gedichten aus „Des Knaben Wunderhorn“ inspirieren. Neben literarischen Größen wie Gottfried Keller und Jens Peter Jacobsen stoßen wir bei den Autoren der hier versammelten Lieder auf Namen wie Max Bruns, Gustav Falke, Richard Schaukal, Paul Wertheimer, Kurt Kamlah, Emil Faktor und vor allem Cäsar Flaischlen, mit dem Wolff eng befreundet war. Heute werden sie nicht mehr gelesen, aber damals spielten sie im Literaturbetrieb eine wichtige Rolle. Der Titel des Albums entstammt dem Gedicht „Der Wanderer“ des später im KZ ermordeten Emil Faktor.

Ein origineller Komponist, ein Neuerer gar wie sein Freund Arnold Schönberg war Wolff zweifellos nicht, eher ein in allen Stilen beheimateter Eklektiker. Da gibt es immer wieder mal déjà-écouté-Erlebnisse, aber trotz eines Oeuvres von mehr als 180 Liedtiteln war er kein Serienfabrikant, seine Musik klingt immer unverbraucht und inspiriert, und so wird man auch in dieser neuen Thorofon-Kollektion des Zuhörens nicht müde.

Das liegt freilich auch an der Interpretin Rebecca Broberg, die sich der stilistischen Vielfalt der Musik gewachsen zeigt und für jedes der Lieder eine Haltung und einen eigenen Tonfall findet. Sie gestaltet die Texte außerordentlich plastisch und mit Einfühlung in ihren poetischen Gehalt und formt die Gesangslinien ausdrucksstark mit ihrer in der Mittellage warmen, gelegentlich sinnlich aufblühenden Stimme. Am charakteristischsten gelingen ihr dabei die humorvollen Gesänge, Kellers „Mich tadelt der Fanatiker“ und „O heiliger Augustin“ oder das im schwäbisch-alemannischen Dialekt geschriebene „Wunderhorn“-Lied „Don Juan“.

Rainer Maria Klaas ist ihr ein versierter und einfühlsamer Begleiter. Allerdings hätte man ihm ein besseres Instrument gewünscht. Oder bin ich da von einer früheren Folge der Edition verwöhnt, wo ein Flügel der Bayreuther Klaviermanufaktur Steingraeber & Söhne zur Verfügung stand?

Das umfangreiche deutsch-englische Booklet enthält die Texte der Lieder sowie einen sehr informativen Essay mit ins Detail gehenden Analysen von Peter P. Pachl (Erich J. Wolff – Ein neues Wunderland der Sehnsucht, Thorofon CTH 2619). Ekkehard Pluta