2017 wird ein Luther-Jahr: 500 Jahre Reformation, der Wittenberger Anschlag der Thesen geschah 1517. Das Label cpo besetzt frühzeitig diese Nische mir einer Rarität: dem Oratorium Luther in Worms von Ludwig Meinardus (1827-1896), das der in Ostfriesland geborene Komponist als sein Opus 36 (von 48) in der Folge der Reichsgründung 1871 schuf, 1874 uraufführte (und zwar mit Unterstützung des Katholiken Franz Liszt in Weimar) und das insbesondere 1883 zum Jubiläumsjahr Luthers (1483-1546) der größte Erfolg in Meinardus‘ Lebzeiten wurde und international über 300 Aufführungen erlebt haben soll. Die Begeisterung für das preußisch-protestantisch geführte Reich nahm die Luthergestalt des Festjahres 1817 in sich auf, die mehr als nationaler Held gegen die Fremdbestimmung denn als theologische Figur Einzug ins Bürgertum gefunden hatte. Der Oratorientext ist von Wilhelm Rossmann (1832-1885) geschrieben worden, einem Pfarrerssohn, der als sich als Theologe und Historiker auf die Reformation spezialisiert hatte und die historischen Ereignisse verarbeitet. Das Oratorium ist zweigeteilt: »Die Fahrt nach Worms« und »Vor Kaiser und Reich« erzählt die Geschehnisse rund um den 17. April 1521, an dem Luther vor dem Reichstag in Worms zum Widerruf aufgefordert wurde, am Tag darauf ablehnte („Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ ist übrigens nicht quellenfest überliefert und wird bei Meinardus zur sympathisch zurückhaltend und bescheidenen, von Flöten begleiteter Aussage des Sängers). Gemäß dem Wormser Edikt wurde Luthers Lehre verboten, er selbst als vogelfrei geächtet. Rossmann macht daraus ein Oratorium mit Pathos und Größe, Luther wird als Held dargestellt – aufrecht und authentisch, eine Leitfigur gegen Fremdbestimmung. Schon im ersten Teil, der Fahrt nach Worms bestehen keine Zweifel an der Person Luther, man singt „Luther und Freiheit! Luther und Sieg!„. Das Oratorium ist laut Beiheft ein „protestantisches Bekenntniswerk“ und eine Fundgrube der theologischen Anspielungen und Parallelen. Das ausführliche Beiheft gibt hierbei viele Hinweise und Erklärungen.
Meinardus‘ Musik kombiniert romantische Klänge, protestantische Choräle, Fugen in den Doppelchören und Pilgergesang, bekannte Luther-Lieder klingen an, Nonnen singen ein Miserere und der Kaiser bekommt einen pompösen Huldigungschor. Stille Momente kontrastieren mit dramatischen, opernhaften Szenen; der zweite Teil mit der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern Roms und Luthers bildet das dramatische Herzstück des Werks. Luther wird durch schnörkellose Melodien charakterisiert, sein Gegenspieler Glapio, der Beichtvater des Kaisers, durch gestische, auf Effekt setzende, sich windende Klänge. Für musikalische Abwechslung und Spannung ist also dadurch gesorgt, daß Meinardus nicht nur begleitet, sondern geschickt kommentiert und verstärkt. Das Concerto Köln spielt mit 42 Musikern engagiert unter der Leitung von Max Hermann; man wählt eine transparente Lesart ohne übertriebene Überhöhungen. Im Beiheft wird erläutert, dass Meinardus das Oratorium zwar mit der „Reformations-Hymne“ Eine feste Burg ist unser Gott schließen lässt, diese aber nicht strahlend, feierlich oder sogar martialisch erklingt, sondern in einer „erschütterlichen“ Weise, wie jeder ‚lebendige Glaube erschütterlich erscheint‘. Das Oratorium erfordert großen gemischten Chor inklusive Knabenchor, der in dieser Einspielung allerdings vom gemischten Chor der tadellosen Rheinischen Kantorei übernommen wird und den vielfältigen Anforderungen – man singt doppelt und dreifach mit und gegeneinander als Anhänger des Kaisers oder Luthers, mehrstimmig a capella und mit voller Orchesterbesetzung, Fugen und Choräle, dramatische und kontemplative Szenen – ausgezeichnet entspricht. Weiterhin benötigt das Werk acht Solisten, die zwei Frauen- und sechs Männersoli sowie diverse Ensemble singen. Das Mit- und Gegeneinander der acht Charaktere bewirkt fast schon opernhaft wirkende Szenen. Besetzt ist dieses protestantische Manifest mit sehr guten und ausgewogen harmonierenden Stimmen, allen voran der vornehm-edlen Stimme von Matthias Vieweg als Luther sowie Catalina Bertucci (Katarina), Clemens C. Löschmann (Justus Jonas), Annette Gutjahr (Marta), Corby Welch (Karl V.), Markus Flaig (Glapio / Friedrich der Weise), Clemens Heidrich (Ulrich von Hutten), Ansgar Eimann (Georg von Frundsberg). cpo gelingt eine ungewöhnliche und spannende Wiederentdeckung! (cpo, 2 CDs, 777540-2) Marcus Budwitius